Europa neu entwerfen

Joschka Fischer zeichnet den Grundriss einer europäischen Föderation und will dabei den Nationalstaat retten

von CHRISTIAN SEMLER

Zuerst sah es gestern so aus, als würde die Zahl der angereisten Medienleute und EU-Experten in der Humboldt-Universität entschieden die der Studierenden ausstechen, aber der Vortragende, Außenminister Joschka Fischer, erwies sich doch noch als Publikumsmagnet – und das zu Recht. Seine Rede war als wegweisend angekündigt worden und sie war es.

Fischer referierte über das Thema „Vom Staatenverbund zur Föderation – Gedanken über die Finalität der europäischen Integration“. „Gedanken“ sollte heißen, hier holt nicht der Außenminister zu einer programmatischen Erklärung aus, sondern es äußert sich Joschka Fischer, der engagierte Zeitgenosse und Politiker. Mit „Finalität“ war gemeint, es geht nicht um die aktuellen Schwierigkeiten bei der Bewältigung des Widerspruchs von „Vertiefung“ und „Erweiterung“ der EU. Sondern wir betreten das kantische Reich der Zwecke, wir widmen uns der Frage, worauf das ganze Unternehmen der EU hinauslaufen soll.

Abgehoben ist diese Frage gewiss nicht. Sie beherrschte das letzte Treffen der EU-Außenminister in Portugal. Und sie treibt auch die Vertreter der mittel- und osteuropäischen Länder um, die ans Tor der EU klopfen. Die „Moel“, wie sie so schön im Wissenschaftsjargon heißen, sind gerade vor zehn Jahren der sowjetischen Hegemonie entronnen. Jetzt sollen sie einen Gutteil der errungenen staatlichen Souveränität wieder abgeben. Werden sie wenigstens gleichberechtigte Mitglieder der europäischen Familie werden? Seit Jacques Delors Vorstoß, aus den EU-Gründern eine Avantgarde-Truppe zu formieren, die zu den Ufern eines europäischen Bundesstaates vorstoßen soll, herrscht Nervosität bei verschiedenen Unterfamilien der EU. Wird etwa das Projekt des „Kerneuropa“ aus den Neunzigerjahren neu aufgelegt, wird ein Europa unterschiedlicher Klassen etabliert? Zur „Avantgarde“ kann nicht jeder gehören, wie die einschlägigen Organisationserfahrungen des vergangenen Jahrhunderts belegen.

Fischer versuchte als erstes, die Ängste der Mittel-/Osteuropäer dadurch zu zerstreuen, dass er die Alternativlosigkeit der Erweiterung hervorhob. Dabei verdient vor allem folgendes Argument Interesse: Durch die EU wurde die alte Doktrin vom Gleichgewicht der Mächte überwunden, die stets ihren Zweck verfehlt hat, das Hegemoniestreben einzelner Großmächte im Zaum zu halten. Würde der Osten und Südosten Europas nicht in den Einigungsprozess einbezogen, so entstünden zwei europäische politische Kulturen und Praktiken. Aus diesem Zustand aber resultiere dann die Gefahr, dass die „klassische“ Nationalstaatspolitik samt ihrem nationalistischen Potenzial ins vereinte westliche Europa überschwappe und sich das Netz der Europäischen Union auflöse.

Im konstruktiven Teil seiner Rede entwarf Fischer den Grundriss einer europäischen Föderation. Sie sollte einem Gründungsakt entspringen, einen Verfassungsvertrag zur Basis haben. Die Idee des Verfassungsvertrags wurde bereits letztes Jahr von den CDU-Politikern Schäuble und Lamers in Kurs gebracht, allerdings ohne inhaltliche Ausgestaltung durch ein dezidiertes Föderationsprojekt. Innerhalb dieses Projekts nun soll nach Fischers Plan die Exekutive stark gemacht werden, mit einem direkt gewählten Präsidenten an der Spitze. Das Parlament könnte aus zwei Kammern bestehen, wobei die erste Kammer sich aus Abgeordneten zusammensetzen sollte, die auch Mitglieder ihrer nationalen Parlamente sind. Diese Doppelmitgliedschaft sollte für einen starken Rückkopplungseffekt sorgen. Die zweite Kammer bestünde dann entweder, wie der deutsche Bundesrat, aus Vertretern der Nationalstaaten oder, wie im Fall des amerikanischen Senats, aus direkt gewählten Senatoren. Fischers Projekt gleicht dem Versuch eines Befreiungsschlags. Unter systematischer Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips will er zu einer klaren Kompetenzaufteilung kommen. Die europäische Ebene beschließt nur, was genuin supranationalen Charakter trägt, alle anderen Aufgaben erledigt der Nationalstaat.

Während es früher als der politischen Weisheit letzter Schluss galt, vom Bedeutungsverlust des Nationalstaats auszugehen, von der Tendenz, dass er zwischen regionalen und supranationalen Orientierungen zerrieben werde, enthielt Fischers Rede eine Referenz an die Dauer des Nationalstaats. Mehr noch: Er schlug vor, für das europäische Projekt von dem Halt zu profitieren, den der Nationalstaat seinen Bürgern verleihe. Das Stichwort für das Gelingen dieser Operation heißt Souveränitätsteilung. Das neue, die Föderation, wird gewonnen, ohne das Alte, den Staat, aufzugeben.

Fischer vermied es, von den Antriebskräften zu sprechen, die der Föderationsidee in den einzelnen Ländern zur Popularität verhelfen könne. Er setzte voraus, dass sich die Einsicht in die Notwendigkeit schon einstellen werde, die bereits vollzogene Einigung in Wirtschaft und Währung durch politische Strukturen zu ergänzen. Gerade das konsequent gehandhabte Instrument der Subsidarität werde zu mehr Klarheit in der Aufgabenteilung, zu mehr Transparenz und damit auch zu mehr Akzeptanz führen.

Und wenn doch nicht? Dann müssen sich die föderationswilligen Mitglieder der EU zu einem „Gravitationszentrum“ zusammenschließen. Nicht zu verwechseln mit dem karolingisch eingefärbten Kerneuropa der Neunzigerjahre, sondern offen, erweiterungsfähig. Aber eben doch entscheidend mehr als die sektoralen Fusionen wie seinerzeit beim Schengen-Abkommen oder beim Euro. An die Stelle des in die Krise geratenen Einigungsprozesses, der konkrete Aufgaben anging, aber das Ziel absichtsvoll im Dunkeln ließ, soll jetzt die Idee des Verfassungsvertrags zur Gründung der Föderation als Ziel den Weg erhellen.