Eine Diskussion findet nicht statt

Der Soziologe Dietmar Kamper rief, und die Intellektuellenschaft kam ins Neandertalmuseum nach Mettmann. Über den Menschen wollte man diskutieren. Der Urmensch sollte als Schirmherr fungieren. Peter Sloterdijk war auch da und hielt eine „Zweitschrift“ der Elmauer Rede

von RENÉ AGUIGAH

Der Satz klingt attraktiv: „Das Jahr 2000 findet nicht statt.“ Eine paradoxe Sentenz – und deshalb intellektuell; leicht einprägsam – und deshalb anwendbar wie ein Slogan. Essayisten strapazierten den Spruch für ihre Millenniumsaufsätze, eine historische Zeitschrift baute ihn zum Themenschwerpunkt aus, und jetzt hob ihn ein Symposion in den Titel, das nichts weniger als den Menschen zum Thema hatte.

Der Satz vom Jahr, das nicht passiert, hat also eine steile Karriere gemacht. Doch bei allem Glanz: Er selbst ist kein Star; der eigentliche Star ist sein Autor. Jean Baudrillard hat ihn geschrieben und 1984 in Berlin vorgetragen. „Das Jahr 2000 findet nicht statt“, so hieß einer jener Trauergesänge, die Baudrillard auf die simulierte Gesellschaft gehalten hat. Dieses Genre hat ihn berühmt gemacht, und ein bisschen vom Glanz des Autors haben sich die Veranstalter des Symposions erhofft.

Der Berliner Soziologe Dietmar Kamper hatte ein gutes Dutzend Referenten ins Neandertal-museum nach Mettmann bei Düsseldorf geladen, und Baudrillard sollte den Eröffnungsvortrag halten: eine „Rede vor den Cro-Magnons“. Doch der Franzose sagte kurzfristig ab und zog die Filmfestspiele in Cannes vor; wahrscheinlich erwartete ihn dort mehr Glamour als in Mettmann.

So tritt als erster Friedrich Kittler vor die Mikros. Auch er ein Star der Theorie, ein spröder allerdings. Kein Requiem à la Baudrillard bekommt das Publikum zu hören, sondern den sächsischen Singsang des schmächtigen Medienhistorikers. „Sind Götter sterblich?“, fragt er. Die alte Behauptung vom Tod Gottes interessiert ihn nicht, sondern ihre Voraussetzung. Kittlers erste Maßnahme: Er stellt fest, dass die Aussage, ein Gott sei sterblich, mit der „mathematischen Logik“ genauso vereinbar sei wie ihr Gegenteil. Nächste Maßnahme: Er gräbt sich in die Welten antiker Mythen. Er erzählt von Zeus Idaios, dem Gott der Kreter, der nicht nur jährlich einmal geboren wurde, sondern auch mit schöner Regelmäßigkeit wieder starb. Dieser kretische Glaube sah sich einem doppelten Angriff ausgesetzt: Der Philosoph Epimenides zieh die Kreter der Lüge, und Paulus, der Apostel, setzte alles daran, dass die Kreter „gesund werden im Glauben“. Beide attackierten Kreta mit demselben Ziel, nämlich das ewige Leben ihres jeweiligen Gottes durchzusetzen.

Kittler buddelt sich Schicht um Schicht in die mythologischen Tiefen, montiert seine Quellen elegant ineinander und kommt zu der Zwischenbilanz: „Die Unsterblichkeit der Götter [...] entspringt schlicht und einfach einer Diskursregelung.“ Wie diese Diskursregelung verhandelt wird, verfolgt Kittler anschließend am Kräftemessen zwischen Gott und dem Wolfsmenschen Lykaon. Dabei unternimmt er einen verwirrenden Streifzug durch Ovids „Metamorphosen“, doch wenn ihm das Publikum unterwegs die Aufmerksamkeit entzogen haben sollte, so fängt Kittler sie am Ende wieder ein: „Wenn mir das gelungen sein sollte“ – die „geneigten Zuhörer“ in Verlegenheit über das Seiende gebracht zu haben –, „dann bin ich dankbar.“ Sagt's und grinst charmant. Der Reiz der Kittlerschen Rede speist sich, wie so oft, aus dem Kontrast zwischen dem zur Schau gestelltem Szientismus und kryptischer Poesie, zwischen ausgebreiteter humanistischer Bildung und eisigem Witz.

Nur: Was die Urmenschen, wie Kittler sie aus den antiken Texten barg, mit jenen Hominiden gemeinsam haben könnten, die die Paläoanthropologen untersuchen, blieb unklar. Kittler selbst machte keinen Hehl daraus, dass er sich um eine Verbindung nicht scherte: Über den Neandertaler könne er nicht sprechen, schließlich habe der „nur Knochen hinterlassen, keine Medien“.

Dabei hatte Dietmar Kamper den Veranstaltungsort mit Bedacht ausgewählt: 1856 wurden hier erstmals Überreste des Neandertalers gefunden. Heute steht dort ein modernes Museum, das schon in seiner hochfahrenden Architektur von den Zukunftsträumen des 21. Jahrhunderts erzählt. Um die „Geschichte der Zeit“ (Programmheft) zu thematisieren, sollte der Urmensch gewissermaßen als Schirmherr fungieren: als der Andere des Jetztmenschen. Doch tatsächlich blieb der Neandertaler meist ein gigantisches Ornament. Auch der titelgebende Essay wurde nicht als Klammer für die heterogenen Beiträge genutzt, obwohl sich Baudrillards Vorlage durchaus als Reservoir für einschlägige Stichworte angeboten hätte: Auflösung der linearen Zeit, genetische Codes, die Gattungsgeschichte.

Das Symposion brachte Gedanken weniger zusammen, als dass es sie nebeneinander stellte: Diskussionen fanden, bis auf zwei Ausnahmen in drei Tagen, nicht statt. Trotzdem ließen sich die Referate manchmal genießen: als Auftritte mehr oder weniger brillanter Solisten. „Jeder spricht hier seine eigene Sprache“, erklärte Dietmar Kamper irgendwann offensiv, „und das ist Absicht.“

So zeigte der Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme (Berlin), seiner Zeit voraus, schon mal Bilder aus Stanley Kubricks „2001“ und knüpfte eine schöne Analyse daran. Christina von Braun (Berlin) betonte, wie sehr der Traum von der Entschlüsselung des menschlichen Genoms verstrickt ist in christliche Mythologeme. Der Tübinger Paläohistoriker Hansjürgen Müller-Beck stellte in einem Abriss über die Forschungsgeschichte zum Neandertaler dar, wie das 19. Jahrhundert auf die Idee kam, von der „falschen Kniestellung“ des Urmenschen auf dessen Primitivität zu schließen. Und der Neurowissenschaftler Detlef Linke aus Bonn rauschte für eine knappe Stunde vorbei, um einen Frontalangriff gegen die Psychoanalytiker im Saal zu formulieren: Die traumatische Erfahrung in der Kindesentwicklung rühre nicht von Freuds Ödipuskomplex her, sondern hänge mit der drastischen Reduktion von Nervenzellen im vierten Lebensjahr zusammen.

Ans Ende der Tagung hatten die Veranstalter wieder einen charismatischen Redner gesetzt – allerdings einen, den manche Kulturjournalisten, wie das bei Stars mitunter so ist, für gefährlich halten: Peter Sloterdijk. Ein halbes Jahr ist der Skandal um seine „Elmauer Rede“ jetzt her. Anklänge an den Faschismus haben ihm manche vorgeworfen, Biologismus andere. Mittlerweile hat sich die Aufregung gelegt, und der Faschismus-Vorwurf hat sich als die reichlich phantasievolle Auslegung eines Textes entpuppt, der etwas verschroben die Techniken des Humanismus in eine Reihe mit den Techniken der Genforschung stellt. Auch Sloterdijk selbst trat im Neandertal gelassener auf, als man es von einem Mann vermuten konnte, der noch jüngst über die akademische Philosophie im Allgemeinen („Selbstverwaltung ihrer Überflüssigkeit“) und Jürgen Habermas im Besonderen („Theoretiker der Reedukation“) giftete. Seinen Vortrag wollte er als „Zweitschrift“ der Elmauer Rede verstanden wissen – eine Wiederaufnahme also oder gar eine Neuschrift?

Tatsächlich berührt der neue Text ähnliche Themen wie der erste Vortrag, aber der Ton hat sich verändert: Er ist nüchterner, weniger artifiziell. Vor allem ist die Fragestellung grundsätzlicher: Nicht mehr die Problematisierung des Humanismus steht im Zentrum, sondern Sloterdijk baut mit großer Geste anthropologische Entwürfe der letzten hundert Jahre zusammen. In diesem Kontext sind konkrete Bemerkungen zur aktuellen Gen-Debatte eher marginal. Klonen bringe die biologische Uhr möglicherweise durcheinander, sagt Sloterdijk einmal, und dann: „Vor solchen Experimenten muss man sich wenn nicht hüten, so doch auf dunkle Ergebnisse gefasst machen.“ Mehr presst er sich nicht ab, und man spürt, wie er sich windet.

Entscheidender ist seine anthropologische Skizze. Sloterdijk arbeitet verschiedene Mechanismen heraus, die den Menschen produziert haben. Das Häuserbauen der Hominiden rechnet er dazu oder ihren Werkzeuggebrauch. Der Vormensch, so Sloterdijk, „ist ein Praktikant des harten Mittels“. Die Verwendung des Steins für die „Trias von Werfen, Schlagen, Schneiden“ hat die Reflexion darüber erst hervorgerufen. So tritt das „menschliche Tier“ seine Entwicklung an, sein Körper beginnt zu „luxurieren“.

Das sind Sloterdijks zentrale Begriffe: Luxus, Verwöhnung, Unreife. Er stellte sie gegen Arnold Gehlens Beschreibung vom Menschen als „Mängelwesen“, denn: „Verwöhntsein ist kein Mangel.“ Tatsächlich versteht Sloterdijk Unreife nicht normativ, sondern biologisch-deskriptiv: Der menschliche Körper trägt weitgehend fötale Züge: dünne Haut statt dickes Fell, ein Gesicht statt einer Schnauze – Merkmale, die aus dem Uterus nach außen übertragen und dort stabilisiert worden sind. Wie nun dieses verletzliche Wesen so erfolgreich überleben kann, das ist das „Mysterium“, das Sloterdijk erklären will. Seine These: Die Kultur kompensiert, was das biologische Wesen nicht kann, und zwar schon seit archaischen Zeiten. Das aber würde heißen: Kulturelle Techniken haben immer schon in den Prozess der Evolution eingegriffen. Wenn also ein Ismus herhalten muss, um etwas Zutreffendes über Sloterdijk zu sagen, dann dieser: Kulturalismus prägt seine Argumentation.

Sloterdijks Metaphern muss man nicht mögen. Erst recht macht der faustische Gestus misstrauisch, mit dem er das „Geheimnis der Menschwerdung“ enthüllen will. Aber ohne sich auf seine Begriffe einzulassen, entsteht kein produktiver Streit. Im Neandertal musste sich Sloterdijks Referat – wie so viele andere – keiner Diskussion stellen. Die Auseinandersetzung mit seinen Thesen findet also vorerst an den Schreibtischen statt: In ein paar Monaten wird der Text gedruckt erscheinen – als Teil einer Abhandlung über Heidegger und die Anthropologie.