Die fernen Archipele

DAS SCHLAGLOCH
von KLAUS KREIMEIER

„Für Europa, für uns selbst und für die Menschheit, Genossen, müssen wir eine neue Haut schaffen, ein neues Denken entwickeln, einen neuen Menschen auf die Beine stellen.“

Frantz Fanon, Bauernsohn aus Martinique, Freiheitskämpfer in Algerien, in seinem Buch „Die Verdammten dieser Erde“

Dem Revolutionär Frantz Fanon, der 1961 mit 36 Jahren an einer Leukämie starb, war es Ernst mit seiner Botschaft. Was wurde aus ihr? Verschollen im Internet? Dies gerade nicht – tippt man Fanons Namen ein, findet man immerhin 2.935 Websites. Michael Jackson, zum Vergleich, bringt es auf über hunderttausend.

Das Internet sei aus der Menschenrechtsarbeit nicht mehr wegzudenken, lesen wir auf der Homepage von amnesty international. Aber das Net ist ein Selektionsdienst – und für die Wege, die wir beim Selegieren einschlagen, bietet es eine Struktur. Die neuen Bildschirme und die zugehörigen Werkzeuge, mit denen wir Zeit und Raum eliminieren, in die entlegensten Winkel der Welt kriechen und die subtilsten Schärfeeinstellungen vornehmen – diese Bildschirme bewähren sich vor allem als hervorragende Abschirmdienste, als elektronischer Rauchvorhang gegen die Wahrnehmung der Realität.

Um Aufmerksamkeit geht es. In der allseits proklamierten „Wissensgesellschaft“ ist sie nicht mehr und nicht weniger als unser Basiskapital, die entscheidende Ressource, um die heute die mächtigsten Konzerne konkurrieren.

Der „weltweite, freie und kostengünstige Informationsfluss“ eröffne auch neue Chancen gegen Henker und Folterknechte in aller Welt – so amnesty international. „Informationen können heute auf elektronischem Wege ungehindert viel weiter verbreitet werden, als es noch vor wenigen Jahren mit Post und Fax möglich war.“ Leider jedoch sichere die neue Technologie der Sache der Menschenrechte keinen Vorsprung gegenüber den menschenrechtsverletzenden Regierungen. Tyrannen „vermeiden die Veröffentlichung von E-Mail-Adressen, um nicht von Protestmails überflutet zu werden“. Sind die E-Mail-Adressen bekannt, so schirmt der Computer die Adressaten gegen die Lektüre der Protestbotschaften ab; die elektronische Antwort „kommt postwendend und vollautomatisch vom Regierungsrechner“.

Zuverlässiger noch als die Computer in den Palästen der Mörder funktioniert die audiovisuelle Unterhaltungsindustrie. Wer in der Jugendhaftanstalt „Panchito López“ in Paraguay tagelang geschlagen, von den Wärtern psychisch traumatisiert, mit dem Kopf nach unten aufgehängt wurde, ist nicht gerade ein gefragter Talkshow-Gast, weder bei David Letterman noch bei Harald Schmidt.

Niemand käme auf die Idee, beispielsweise von RTL 2 zu verlangen, die Doku-Soap „Big Brother“ abzubrechen und stattdessen einen täglichen Bericht über die Lage auf der Häftlingsinsel Bioko, 500 Kilometer östlich der Hauptstadt Malabo in Äquatorial-Guinea, zu senden, wo die Regierung ihre politischen Gefangenen systematisch verhungern lässt. Ebenso gut könnte man Thomas Gottschalk fragen, warum er noch nie Maurice Tchambou in sein Studio geladen hat, den prominentesten Menschenrechtler Kameruns, der seit Jahren von den brigades anti-gang gejagt und jetzt wieder einmal, ohne Kontakt zur Außenwelt, in Haft gehalten wird.

Wer in der globalisierten Mediengesellschaft nach Gehör für das globale Unrecht schreit, wartet mit den armen Clowns Wladimir und Estragon vergeblich auf das Erscheinen Godots. Als 3sat Ende Januar in einer halbstündigen Sendung einen der Urgent-Action-Fälle von amnesty aufgriff, zeigte sich an dieser Ausnahme schlagend, dass in der Parallelwelt unseres elektronischen Bilderuniversums die Archipele der Unterdrückung ferner sind als die der Erde abgewandte Seite des Monds.

Selbst Massaker, Naturkatastrophen und Hungersnöte, die traditionellen Medien-Highlights aus der unterentwickelten Welt, verlieren allmählich ihren Attraktionswert. Ohne Kostenaufwand könnten die Redaktionen die Bilder vergangener Jahre aus ihren Archiven recyceln – über die Qualität von News, die einen „Kick“ vermitteln könnten, verfügen sie jedenfalls nicht.

Schädelstätten, Schlachtfelder unfasslicher Barbarei wie gegenwärtig in Sierra Leone oder, vor einigen Jahren, in Liberia fallen aus dem globalen Wahrnehmungshorizont heraus und bleiben notorisch abgedunkelte Zonen in einer Welt, die im Übrigen die Nacht besiegt und an die Kathodenstrahlröhre und an die Überwachungskameras ausgeliefert hat.

Journalisten, die sich ihr Berufsethos so schnell nicht abkaufen lassen, geraten unvermittelt ins Feuer oder in einen Hinterhalt. Als am 10. April die Sicherheitskräfte Gambias eine Demonstration in der Hauptstadt Banjul mit Tränengas und Gummigeschossen auseinandertrieben, feuerten sie wahllos in die Menschenmenge und töteten Oumar Baro, einen Reporter und ehrenamtlichen Mitarbeiter des gambischen Roten Kreuzes, als er verletzten Demonstranten zu Hilfe eilen wollte. Er ist nur einer von annähernd hundert Journalisten, die allein in den ersten Monaten dieses Jahres in irgendeinem Winkel Afrikas, Lateinamerikas oder Asiens an einer Straßenecke gekillt, in Polizeiverliesen gefoltert oder dadurch beseitigt wurden, dass man sie gewaltsam „verschwinden“ ließ.

Während der Alltag des Mordens an den Peripherien der Zivilisation aus dem Sichtfeld des Global Village ausgeblendet bleibt, stürzen tropische Dramen wie die Entführungsaktion der Gruppe „Abu Sayyaf“ auf den Philippinen kataraktartig in die Bildschirmrealität – selbst dann, wenn kaum Bilder zu haben sind und die Reporter ihre eigene Entführung provozieren müssen, um an ihren Scoop zu gelangen.

Dies ist keineswegs nur so, wie es ist, weil die Opfer Weiße sind, sondern weil sich das Ereignis selbst medial an der Schnittstelle zwischen „Traumschiff“-Serie und Urwald-Thriller ansiedeln und mit Nebenhandlungen, Gerüchten, Spekulationen emotional anreichern lässt. Potenziell ist die Insel Jolo ein Dreh-Set; was auf ihr geschieht, drängt zur Soap – und Entführer wie Unterhändler tun das Ihre, um den Vorgang zur Endlosschleife zu dehnen.

Wenn irgendwo, so zeigt sich hier, dass nicht etwa eine perfide Zensur oder finstere Manipulateure uns die Sicht verstellen. Vielmehr: Es sind die Strukturen medialer Wahrnehmung, die unsere Aufmerksamkeit imprägnieren – und die das Schicksal der weißen Urlauber auf Jolo mit der anderen aktuellen Medien-Story, der von der Vertreibung der letzten weißen Farmer aus Simbabwe, verbindet.

Vielleicht haben ja alle Geschichten von den mörderischen Randgebieten der Erde, die erzählten wie erst recht die nicht erzählten, einen gemeinsamen historischen und melodramatischen Kern: die Story vom Abschied des weißen Mannes von den exotischen Zonen, die er erst geplündert, dann mit seinen Maschinen, seinem Militär und seinen demokratischen Ratschlägen versorgt und schließlich sich selbst überlassen hat.

So gesehen, erbringen Informationstechnologie und Unterhaltungsmedien eine psychologische Serviceleistung: einen Dienst, der auf kollektive – und kollektiv gewünschte – Erblindung zielt.

Hinweise:Amnesty meint, der weltweite, freie Informationsfluss eröffne Chancen gegen Folterknechte Wer in der globalen Mediengesellschaft nach Gehör für das Unrecht schreit, wartet auf Godot