Kino-Auge

Bevor Dziga Vertov vom kleinen Angestellten im Moskauer Kinokomitee der Sowjets zu einem ihrer bedeutendsten Filmemacher und -theoretiker wurde, träumte er von einem Aufnahmegerät für die Töne des modernen Alltags: „Im Frühling 1918 kam ich vom Bahnhof zurück. In unseren Ohren immer noch die Seufzer und das Hämmern des abfahrenden Zuges ... Lachen, Pfeifen, Stimmen, das Schlagen der Bahnhofsuhr, das Schnauben des Dampfmotors ... Geflüster, Ansagen, Abschiedsworte ... man müsste einen Apparat an die Hand bekommen, der diese Geräusche nicht nur beschreibt, sondern vielmehr aufzeichnet, sie fotografiert.“ Zur gleichen Zeit experimentierte er, beeinflusst von den italienischen Futuristen, in Moskauer Avantgarde-Zirkeln mit minimalen Sound-Montagen. Vielleicht gab es deshalb für seinen Film Der Mann mit der Kamera nie eine feste Partitur. Zu den Aufführungen sollten jeweils vor Ort ansässige Musiker ihre Interpretation der Bilder frei in Ton umsetzen. Thema seines berühmtesten Films sind die Manipulationsmöglichkeiten des Kinos. Scheinbar folgen die Bilder einen Tag lang der Arbeit von Vertovs Kameramann Michael Kaufman. Tatsächlich ist der Film am Tisch der Cutterin Elizaveta Svilova montiert worden, aus Material, das nicht nur aus unterschiedlichen Jahren stammt, sondern auch in verschiedenen Städten entstanden ist. Damit trieb Vertov 1929 einerseits sein Credo für den konsequent nicht-fiktionalen Film auf die Spitze. Gegen das zaristische Kino der „Märchen-Szenarien“ (Vertov) hatte der junge sowjetische Film die Dokumentation des neuen sozialistischen Lebens gesetzt. Das galt auch noch in der frühen Stalin-Zeit. Andererseits dokumentierte dieser Film nichts als die Tricks bei der Arbeit des Filmens selbst. Möglicherweise wollte Vertov hier schon die Augen schärfen für die kleinen Lügen, mit denen Stalin die Realität zuzudecken begonnen hatte. Darüber hinaus bekannte sich der Film zu einem europäischen Modernismus, der in der Sowjetunion schon nicht mehr opportun war. Zu einem Prozess hat aber für Vertov weder dieser noch einer seiner späteren Filme geführt – etwa sein Auftragsfilm zu Ehren von Lenin, Drei Lieder für Lenin (1934), in dem er es versäumt hatte, auch den neuen Generalsekretär gebührend zu würdigen. Als zahlreiche seiner KollegInnen Kritik und Selbstkritik leisten mussten, hat man ihn schlicht ignoriert.

Für heute Abend hat der regelmäßige Club „Frischdienst2000“ im Fundbureau die Kinoki DJs eingeladen. Sie begleiten den rasend schnell geschnittenen Film live an den Plattentellern mit Musik von Schostakowitsch bis Drum 'n' Bass. Das hätte sich Vertov nicht träumen lassen.

Christiane Müller-Lobeck

heute, Fundbureau (Stresemannstr. 114), 22 Uhr