Stuff means speed

Vom Verhältnis von Eigentum und Beschleunigung zum Mangel an Zeit: „Stopping“, Selbstaffirmation, fünfzehnminütiger Büroschlaf und allerlei andere Methoden gegen Stress

von OLE SCHULZ

Der Mann kann einem irgendwie schon leid tun. „Es scheint, als ob auf der Welt alles im Fünfminutentakt funktioniert“, wunderte sich der Microsoft-Chef Bill Gates über die Kurzweiligkeit seines Lebensstils. Doch nicht allein den Propheten des digitalen Zeitalters haben die Geister eingeholt, die er gerufen hat: Stress ist das Syndrom unserer Epoche. In der individualisierten Gesellschaft steigen die Anforderungen an den Einzelnen ständig, Biografien werden zu Puzzlespielen und Identitätssplitting zur Pflicht.

Weil keiner mehr Zeit hat, verlieren wir unsere Wurzeln in der Gemeinschaft, selbst mit den besten Freunden kommunizieren wir fast ausschließlich per E-Mail oder Telefon. Um Zeit zu sparen, bietet Microsofts Internetzeitung Slate seit einiger Zeit den Service an: „Lesen Sie bei uns fünf Tageszeitungen in weniger als fünf Minuten!“ Das Versprechen, dass uns die neuen Medien mehr „freie“ Zeit bringen, hat sich aber bisher als Chimäre erwiesen.

Mit den Möglichkeiten, die uns der technologische Fortschritt und die Freiheit von alten Bindungen bieten, steigen neben der Vereinzelung auch die Risiken des Scheiterns und damit die Angst vorm Versagen. Angesichts von Flexibilisierung, Globalisierung und Beschleunigung haben viele das Gefühl, dass sie die Kontrolle über ihr eigenes Leben verloren haben. Stress ist inzwischen zum Auslöser für einen großen Teil psychosomatischer Krankheiten geworden.

Was aber tun, wenn man keine Ruhe mehr findet? Folgt man dem weiten Feld von Stressbewältigungs-Ratgebern hilft immer noch die Methode der Selbstaffirmation. Denn es komme in erster Linie darauf an, wie man mit den Belastungen des Alltags umgehe. Deshalb solle man sich etwa kleine Zettelchen über den Schreibtisch hängen auf denen Sprüche stehen wie „Ich bin gut drauf“ oder „Du schaffst es!“.

Wem das zu plump ist, der kann sich auch fernöstlichen Lehren zuwenden. In Managerkreisen sei „Kai-Zen“ äußerst beliebt, erzählt mir ein Freund, der als Controller bei einem Filmverleih arbeitet. Allerdings geht es hierbei vorrangig um ökonomische Effizienz – wörtlich übersetzt heißt „Kai“ ändern und „Zen“ besser. Gemeint ist damit ein Prinzip der stetigen Verbesserung; in der Produktion soll es angeblich zu Leanmanagement führen.

Die Zeitschrift Psychologie Heute rät allen, die sich überfordert fühlen, zunächst einmal die Dinge positiv zu sehen. Die stressfreie Lebensweise, die einem in der Dezemberausgabe nahegelegt wird, liest sich wie eine Anleitung für den atomisierten Menschen, wieder zu sich selbst zu finden. Der Philosoph Manfred Geier setzt etwa stoische Seelenruhe der postmodernen Indifferenz entgegen. Ohnehin erlebt das Denken der Stoiker laut Psychologie Heute derzeit eine Renaissance: Lerne, dich gegenüber Dingen, die du nicht beeinflussen kannst, gleichgültig zu verhalten! Die Buddhisten gehen noch einen Schritt weiter und verlangen, dass man gar nichts mehr begehren dürfe.

Bedürfnislosigkeit ist aber zumindest auch aus einem anderen Grund angebracht: Weil materielle Güter unsere Zeit rauben. Jedes Küchen- oder Sportgerät, das wir uns kaufen, kostet nicht nur Geld, sondern vor allem auch Zeit. Der Chaosforscher James Gleick hat daraus abgeleitet: „Stuff means speed“ – all die Waren wollen genutzt werden und beschleunigen darum das Leben. Soziologen konstatieren ebenfalls ein zunehmendes „Zeitunwohlsein“: Je reicher und gebildeter die Menschen, desto größer ihre Angst, nicht genug Zeit zu „besitzen“.

Daher sei es wichtig, dass wir uns Zeit nehmen – für uns selbst und für unsere Mitmenschen, empfiehlt Psychologie Heute. Nicht zuletzt müssten die Erholungsbedürfnisse des Körpers beachtet werden. Das Geheimnis liege gerade darin, eben nicht alle Zeit zu verplanen. Erzwungene Pausen müssten zum Beispiel als „unverhoffter Zeitgewinn“ betrachtet werden. „Stopping“ wird diese Methode genannt. Sich mal ein ganzes Wochenende nichts vornehmen etwa, also das Nichtstun ertragen lernen. In ihrer Konsequenz lassen sich die Ratschläge von Psychologie Heute als ein Plädoyer verstehen: für eine Art modernes Aussteigertum, das sich den wachsenden Zeitansprüchen der Arbeits- und Konsumwelt verweigert. Gut für das Bruttosozialprodukt ist das bestimmt nicht, anders kann man dem Kreislauf aber kaum entgehen.

Ein gewisses Maß an Stress ist andererseits allein dafür notwendig, um den menschlichen Organismus auf Trab zu halten. Zudem kann der Mangel an Beschäftigung umgekehrt erst zu Stress führen: Außer Überlastung, Termindruck und Arbeitstempo seien auch Unterforderung, Monotonie und erzwungene Langeweile zu wichtigen Stressoren geworden, wurde auf den „2. Berliner Stressforschungstagen“ in der Charité festgestellt.

Mehr noch: Die größten Stressfaktoren seien heute verschluckter Ärger und soziale Unsicherheit, sagte der Berliner Stressforscher Karl Hecht auf dem Kongress vor einer Woche. Als ein einfaches Mittel, das die Stimmung hebe und stressbeständiger mache, empfiehlt Hecht ein regelmäßiges Mini-Nickerchen: den nachmittäglichen Fünfzehn-Minuten-„Büroschlaf“. Nur Bill Gates dürften wohl schon fünf Minuten reichen.

In der Juliausgabe widmet sich „Psychologie Heute“ erneut dem Thema: „Wie man aus Stress Kraft und Gesundheit schöpft“