Freie Fahrt und ein Stundenhotel

Kuba ist ein Paradies für Fahrradtouren. Sogar auf Autobahnen darf man radeln. Und fernab der Touristenattraktionen findet man die Sensationen des Alltäglichen und überraschende Privatzimmer

von CHRISTOF STRÜMPEL

Radelnder Stillstand im „Ciclobus“: Kubaner aller Hautschattierungen stehen dicht gedrängt im so genannten „Fahrradbus“, während draußen die Stadt an ihnen vorbeischaukelt. Sie halten sich fest an ihrem Fahrrad der Marke „Flying Pigeon“ – solide, altmodisch, made in China.

Der Ciclobus ist ein museumsreifer Nahverkehrsbus, der vor Jahren im fernen Holland ausrangiert wurde, bevor er seine neue Bestimmung in Havanna fand. Sitzplätze gibt es nicht im Ciclobus. Die Sitzreihen wurden einfach ausgebaut, um Platz zu schaffen für die Drahtesel der Pendler. Und einsteigen darf nur, wer ein Fahrrad mitführt.

Geduldig warten die Radler, bis der Bus sie und ihre „Fliegenden Tauben“ von der Altstadt ins Neubaugebiet gondelt, durch den Tunnel, der den behäbigen Rio Tejo unterquert. Dies ist die wohl einzige Straße Kubas, die für Fahrräder gesperrt ist. Der Rest der Karibikinsel, die sich 1.200 Kilometer von Ost nach West erstreckt, ist ein wahres Radlerparadies. Zwangsläufig. Denn Benzin ist teuer und die Bevölkerung arm. Sogar auf den Autobahnen darf geradelt werden, auf der Spur ganz rechts. Links davon tuckern Motorräder und Lastwagen vorbei. Und ab und zu rollt auch ein Pkw auf der Überholspur entlang. Maximalgeschwindigkeit: 80 Stundenkilometer.

Die Radtour beginnt auf der Autobahn. Schon wenige Kilometer außerhalb des Stadtgebietes von Havanna lässt der Verkehr spürbar nach. Bauern stehen am Straßenrand der Autopista und bieten riesige Käselaibe zu Schwarzmarktpreisen feil. Wir fahren nach Osten, was auf Kuba heißt: gegen den Wind. Nach einer Tagesreise biegen wir nach Süden ab ins Landesinnere, vom Atlantik quer durchs Land bis zur Karibikküste. Vor uns liegen weite Zuckerrohrebenen. Zwischendrin Ortschaften wie aus Wildwestfilmen: schnurgerade, kolonnadengesäumte Straßen, Pferdekutschen, amerikanische Straßenkreuzer. Jubelnde Kinder am Straßenrand rufen „Cicli! Cicli!“ und winken. Entgegenkommende Fahrradfahrer heben die Hand und wünschen freundlich „Buenos díaz“. Kurzum, wir fühlen uns ein bisschen, als würden wir dazugehören. Das Trennende tritt weniger deutlich zutage, als wenn wir im nagelneuen Leihwagen aufkreuzen würden.

Mit dem Ende des Kalten Krieges versiegten die billigen russischen Öllieferungen. Es begann die so genannte „spezielle Periode“. Das Benzin wurde rationiert, und seitdem ist die Insel wie gelähmt. Paradoxerweise wird so das Fahrrad zum Inbegriff der Mobilität.

Meist übernachten wir bei Privatleuten, in so genannten Casas particulares. In allen größeren Städten gibt es staatlich lizensierte Fremdenzimmer, die zwischen 10 und 20 Dollar kosten. In touristisch erschlossenen Orten ist dies zu einem einträglichen Geschäft geworden: Horden von Schleppern versuchen dort, Zimmer zu vermitteln, um von den Wirten Provision zu kassieren. Doch der auszuhandelnde Preis lässt keinen Rückschluss auf die Qualität der Unterkunft zu. Denn auf Kuba haben Preis und Leistung nichts miteinander zu tun. Manches gute Zimmer und exquisite Essen haben wir zu Schleuderpreisen bekommen, dann wiederum für miese Absteigen mehr bezahlt als zu Hause. Aber meist hatten wir ohnehin keine Wahl. Also betrachten wir die Reisekosten als Gesamtes und verrechnen den Liter Mineralwasser für vier Mark mit der riesigen Kokosmakrone für zehn Pfennig. Und wer sich über die gut gemeinten Warnungen des Hausarztes hinwegsetzt, findet die leckersten einheimischen Spezialitäten für wenige Pesos bei den Straßenhändlern: Pizzen, Brötchen mit Schinken, „Guarapa“, der frisch gepresste Zuckerrohrsaft, eisgekühlte „Refrescos“, das sind süße Limonaden, oder einfach nur einen stark gebrannten kubanischen Kaffee.

Cienfuegos, die drittgrößte Stadt Kubas, gilt als langweilig. Das ist ihre Stärke. Keine spektakulären Sehenswürdigkeiten wie etwa im nahe gelegene Trinidad. Stattdessen dominieren die leisen Töne. Erschöpft erreichen wir die Stadt in der Abenddämmerung. In der Nähe des alten, von einem Zuckerbaron erbauten Theaters spricht uns ein Schlepper an, erloschener Zigarrenstumpen im Mundwinkel. Er führt uns zu einer Casa particular. Von außen ein Haus wie jedes andere. Zwei Stockwerke, blassbunter Putz blättert von der Fassade. Wir treten ein. Und sind überwältigt von der alten, kolonialen Pracht. Um einen mit tropischen Pflanzen bewachsenen Hof gliedert sich das Haus mit seinen maßlos hohen Salons und Nebenräumen. Kostbare Möbel, prächtige Kronleuchter und alte Ölbilder verbreiten eine Atmosphäre von völlig unerwartetem Luxus. Wir haben Glück, es ist noch ein Zimmer frei, und wir wurden mit dem Wirt handelseinig. Während er das Abendessen kocht, ruhen wir uns ein wenig aus. Legen uns aufs Bett, schließen die Augen. Durch die angelehnten Fensterläden dringt das akustische Abbild eines kubanischen Hauses: Auf der Straße kreischen Kinder, aus einem Radio scheppert Salsa, gegenüber Töpfe und Pfannen, und auf dem Balkon nebenan grunzt leise ein Schwein vor sich hin, auf Kuba ein ganz normaler Mitbewohner.

In einem kleinen Provinznest lernen wir Eduardo kennen. Er arbeitet in einer Kleiderfabrik als Textilgestalter. Als wir abends an der Fabrik vorbeigehen, spricht er uns an. Eduardo ist 35 und lebt noch immer bei seinen Eltern. Das Haus hat zwei Zimmer, eine Wohnküche, einfachste Möbel. Als Homosexueller hat er es nicht leicht, hier in der Provinz. Sein Monatslohn von umgerechnet 20 Mark reicht gerade für das Nötigste. Die Freiheit, hier wegzuziehen, gehört nicht dazu. Denn Wohnungen und Arbeit werden zugeteilt. Einmal, vor einigen Jahren, durfte er für seine Firma zu einer Modemesse nach Barcelona fliegen. In Spanien war Winter, und er wäre fast erfroren in seinen dünnen Kleidern. Eduardos Gesten werden lebendiger, als er von seinem für andere Kubaner kaum vorstellbaren Abenteuer erzählt. Noch immer ist diese Reise das Großartigste in seinem Leben. Einmal den frischen, rauhen Wind der Freiheit spüren. Doch die traditionell starke Familienbindung und der Stolz auf sein Land ließen ihn, trotz aller Nachteile, ins zimmerwarme Tropenparadies zurückkehren.

Die wohl schönste Fahrradroute im Westteil Kubas ist die Straße von Havanna an der Nordküste entlang nach Westen: Allmählich wird das Land hügeliger, zur Linken rücken die Berge näher, auf der rechten Seite locken ausgedehnte, blau schimmernde Buchten und dahinter, in der Ferne, der Atlantik. Drei Tage brauchen wir, bis wir die Straße nach Süden erreichen, die in das Gebirge führt, nach Vinales. Der Ort ist bekannt für seine landschaftlich reizvolle Lage: Die kleine, kaum vier Straßenzüge große Stadt liegt in einem breiten Tal. Eigentümliche, riesenhafte Felshöcker, so genannte „Mogotes“, ragen aus dem glutroten, fruchtbaren Boden. Die Wände sind so steil, dass kein Mensch sie besteigt. Doch von ihren von Rankpflanzen und Buschwerk bewachsenen Steilhängen schallt ein orchestrales tropisches Vogelkonzert.

Wir sind schon in der Morgendämmerung aufgestanden, denn vor uns liegt eine lange Etappe, von Vinales gen Westen, durch äußerst dünn besiedeltes Gebiet. Meilenweit keine touristischen Annehmlichkeiten: keine Hotels und keine „Tiendas“, eine Art kubanischer Intershop. Vielleicht gibt es nicht mal ein Casa particular. Wir lassen es darauf ankommen. In diesem entlegensten, ärmsten Teil Kubas herrscht erstaunlich reger Verkehr: Fußgänger, Fahrradfahrer, Reiter und sogar Ochsengespanne, hinter denen ein Brettergestell über den Boden schleift, bepackt mit Wasserfässern oder anderen Lasten; Als läge die Erfindung des Rades noch in ferner Zukunft. In der Ferne die Berge, neben der Straße ragen die steilwandigen Mogotes auf. In diesen geschützten Tälern wächst der beste Tabak. Im Tal verstreut spitzgiebelige Trockenscheunen für die Tabakernte.

Gegen Abend, mit dem Verlassen des Tales, erreichen wir Guane, die erste größere Ortschaft. Niemand, der uns ein Casa particular anbietet. Das Hotel am Marktplatz macht einen verfallenen Eindruck und ist seit einigen Jahren aus „technischen Gründen geschlossen“. Schüchtern nähert sich uns ein halbwüchsiger Junge, der uns seine Vermittlerdienste anbietet. Es ist die einzige Unterkunft am Ort. Ein Stundenhotel. Genau genommen eine umgebaute Garage mit Dusche, die kubanische Paare für einige ungestörte (Schäfer-)Stunden mieten können, denn oft wohnen mehrköpfige Familien in einem einzigen Zimmer. Das Stundenhotel macht seinem Namen alle Ehre, für einen Aufenthalt länger als sechzig Minuten ist es völlig ungeeignet. Der enge Raum riecht muffig, an den Wänden hängen Pin-ups, die Decke voller Spiegel. So also sieht hier die sexuelle Freiheit aus. Doch mit der Diskretion des Liebesnestes ist es nicht weit her. Mitten in der Nacht krachen Schläge gegen die Tür. Es ist so weit. Wir werden ausgeraubt. Sicher sind sie bewaffnet. Still liegen wir im Bett. Dann Stimmen. „Polizia“ ruft es von draußen wiederholt. Die Polizei also, wir sind gerettet. Wir öffnen. Als sie sich überzeugt haben, dass wir nur Touristen sind, also harmlose Devisenbringer, wird der Ton freundlich. Nach pflichtschuldiger Ausweiskontrolle wünschen sie uns eine gute Nacht. Am nächsten Morgen erfahren wir: Ein Nachbar hatte beobachtet, wie wir hier abgestiegen waren; wie der private Betreiber das billige Stundenhotel als teures Touristenhotel missbraucht und sich so illegal bereichert hat. Den Wirt erwartet ein saftiges Bußgeld.