Weich ist der Boden der Wahrheit

Schneewittchen goes Hamlet: Während schon Robert Walser bei seiner Bearbeitung des Grimmschen Märchens schwer gegrübelt hatte, vertraut sich der Schweizer Regisseur Elias Perrig in der Stuttgarter Inszenierung ganz dem Rätsel an und versteckt sein Talent im Detail

von SABINE LEUCHT

Schneewittchen zweifelt, und dem allerliebsten Mädlein mit den sieben netten Zwergen hinter den Bergen malen sich unpassende Denkfalten auf die Stirn. Und da die erste Denkfalte bereits das böse Ende alles Märchenhaften bringen kann und da in Robert Walsers 1901 erschienenem Denkfaltenstück „Schneewittchen“ ganz furchtbar viel gedacht wird, deshalb hat jeder, der nun ein Märchen erwartet, falsch gedacht. Walsers Etüde beginnt und endet dort, wo im Märchen alles schon geschehen ist und zum guten Schluss bloß die gerechte Rache fehlt. In dieses Vakuum hinein bricht nun der Zweifel: Schneewittchen möchte plötzlich an die Bosheit der Stiefmutter nicht mehr glauben, nichts mehr wissen von Vergangenem und zu allem einfach ja sagen können.

Der 34-jährige Regisseur Elias Perrig lässt in Stuttgart zunächst eine Frau aus „Schneewittchen“ lesen – so, wie es die Brüder Grimm erinnert haben wollten: Das schöne, unschuldige Kind, dem die neidische Stiefmutter ans Leben will und das am Ende von einem edlen Prinzen aus einem gläsernen Sarg heraus geheiratet wird. Doch Vivian Scheurle liest den Grimm wie eine Vierzehnjährige ihren Henry Miller – hastig auf der Suche nach „Stellen“. Und zwischen schwach obszönen Niedlichkeitssalven wie „Bettelein“, „Becherlein“ und „Tellerchen“ leuchtet plötzlich die schamlose (und prompt bejahte) Zwergenfrage auf: „Willst du uns den Haushalt versehen?“ Wie die Lesende da ungläubig stutzt, ahnt im Zuschauerraum noch keiner, dass wir dem biederen Geist Schneewittchens in den folgenden neunzig Minuten so nahe nicht mehr kommen werden. Weil Perrig mit Walsers Text genau das nicht tut, was ihm bei Grimm so leicht fiel: Fragezeichen setzen. Sicher: Der kurze Abend ist sympathisch und stellenweise recht amüsant angelegt. Nur ist er eben zu sehr in die Rätselhaftigkeit des Stücks verliebt. Und wo sich Spiel mit Ernst und Glauben, Sehnen, Wissen laufend mischen, ist am Ende gar nichts von Belang. Das war schon Walsers Problem. Und auch Perrigs Versuch ist nicht weniger redundant als die Märchenvorlage.

Nur pflegt eben jeder die Redundanz auf seine Weise. Perrig, den der als Talententdecker bekannte Stuttgarter Schauspiel-Intendant Friedrich Schirmer in dieser Spielzeit fest an sein Haus geholt hat, sagt man ein Händchen fürs Stille und Melancholische nach. In Brian Friels „Leben ein Tanz“ und in Conor McPhersons „Das Wehr“ bejubelte die Kritik die Menschenkenntnis und den unverkennbar eigenen Ton der Regie. Auf das Berliner Theatertreffen wurde der zurückhaltende schmale Mann noch nicht geladen, doch soll er bereits namentlich vermisst worden sein.

Letzten Herbst hat der (fast zu Ende) studierte Biochemiker auf dem baden-württembergischen Festival „Politik im freien Theater“ mit einer Produktion des Züricher Theaters an der Winkelwiese einen ersten Preis ergattert: In „Der letzte Henker“ interviewt ein Psychiater brave Schweizer Kleinbürger, die sich 1938 freiwillig gemeldet hatten, um einen dreifachen Mörder zu Tode zu bringen. Das Poetisch-Verträumte der Darstellung, das dem Inhalt ein spannungsvolles Schnippchen schlug, fehlt auch diesmal nicht: In der Mitte der Bühne des Stuttgarter Theaters im Depot staksen die Schauspieler in Kettenhemd, Reifröcken und buntem Kunsthaar durch eine Hügellandschaft, die sich unter den Tritten knautscht, als sei sie frisch gebacken (Bühne: Mascha Braun) – so weich ist der Boden der Wahrheit! So eiern wir manchmal im Traum! Um diese Mitte ein klösterlicher Säulengang, in dem ein Waldhornbläser (Florian Urlichs) sich langsam vorwärts schiebt, um am Ende einmal ganz herumgegangen zu sein.

Das ist hübsch, wenn auch sehr formal. Überhaupt wirkt vieles ein wenig arrangiert und so, als hätten ein paar Probentage mehr noch viele Momente wie jenen hervorbringen können, als die Stiefmutter mit fast wissenschaftlichem Interesse nach den Zwergen fragt: „Wie war’s dort?“ Dass es still war, sauber, rein – das ist natürlich keine Überraschung. Schön ist nur der schmerzliche Blick von Hedi Kriegeskotte, als sie hört, wie harmlos das Leben ist, nach dem die Tochter (Elisabeth Findeis) sich sehnt. Sie selbst kennt nur Liebe oder Hass – beides ist ihr gleich, weil Leidenschaft. Der „kleine Prinz“, der Schneewittchen küsste, ist dieser Leidenschaft verfallen: „Verzeih, du liebes Winterbild ... Verzeih der Lieb’, die dich aus dem Sarge nahm, dem gläsernen, worin du lagst mit Rosenwangen, offnem Mund und Atem, der Lebend’gen gleich. Dies war ein Bild zum Sterben süß: Hätt ich es doch gelassen so, dann kniete Liebe noch vor dir.“ Bilderliebe allein macht aber keinen glücklich. Man muss das Leben schon mal kitzeln dürfen.