Tabuisierte Fragen

In Serbien entwickelt sich „Otpor“, eine neue Widerstandsbewegung, mit Mut und Phantasie. Wird sie auch eine Debatte über Kriegsschuld, das Kosovo und die Deserteure erzwingen?

von THOMAS SCHMID

Männer aus dem engsten Umkreis von Slobodan Milošević werden erschossen – als Mitwisser oder als Konkurrenten, ausgeschaltet von der Geheimpolizei, wie in Belgrad weithin vermutet wird. Die wichtigste Fernsehstation der Opposition, ihr größter Rundfunksender und ihre am weitesten verbreitete Tageszeitung werden mit Gewalt zum Schweigen gebracht. Mitglieder der radikalen Oppositionsbewegung „Otpor“ (Widerstand) werden zu Dutzenden zum Verhör abgeführt. Ivan Stambolić, einst Mentor von Slobodan Milošević und von diesem schließlich vom Sockel gestoßen, wähnt seinen einstigen Zögling nun „an der letzten Verteidigungslinie“.

Doch da war der Potentat von Belgrad schon oft. Im Frühling 1991, als er in der serbischen Hauptstadt Panzer auffahren ließ, im Winter 1996/97, als Hunderttausende über zwei Monate lang täglich gegen den Wahlbetrug auf die Straße gingen, im Sommer 1999, als die Nato die Infrastruktur seines Landes weithin zerstört hatte.

Nun geht die Opposition wieder täglich auf die Straße. Ob Milošević wie im vergangenen Jahr erneut einfach wartet, den Protest aussitzt, bis er leiser wird und ganz verstummt, oder ob er sich genötigt sieht, schon bald die Panzer zu rufen, ist noch offen. Anders als im vergangenen Jahr bilden nicht mehr die Oppositionsparteien mit ihren Führern, die einander Spinnefeind sind, die Spitze der Bewegung, sondern „Otpor“, eine Gruppe, die im Herbst 1998 entstand, als das Regime die Universitäten an die Kandare nahm und ein restriktives Mediengesetz erließ, das die Schließung unbotmäßiger Sender und Zeitungen juristisch erleichterte.

Inzwischen ist „Otpor“ mit 17.000 registrierten Mitgliedern und landesweit 120 Büros die stärkste Oppositionskraft des Landes. Der Umstand, dass sie über keine zenralen Führungsstrukturen verfügt, mag angesichts der scharfen Repression von Vorteil sein, könnte es ihr aber erschweren, sich als eigenständige Bewegung gegenüber den oppositionellen Parteien zu behaupten. Und mit diesen ist Milošević noch immer fertig geworden.

Der heutige Protest ist gewissermaßen eine Spätfolge des Wahlsiegs der Opposition im Jahr 1996, den das Regime erst unter dem monatelangen Druck der Straße anerkannte. Damals schienen Milošević’ Tage gezählt. Doch nachdem er die Rathäuser zahlreicher Städte seinen Gegnern überließ, kehrte im Land Ruhe ein. Zoran Djindjić, Führer der oppositionellen Demokratischen Partei, wurde Bürgermeister von Belgrad.

Aber sein Mitstreiter Vuk Drašković, Führer der Serbischen Erneuerungsbewegung, bootete ihn schon bald mit Hilfe der Stimmen von Milošević’ Partei aus. Die Partei des bärtigen Schriftstellers übernahm mit der Kontrolle der Administration der Hauptstadt auch den stadteigenen Fernsehsender „Studio B“ und ließ sich danach ins Machtkartell einbinden. Drašković wurde jugoslawischer Vizepremier.

Erst während der Nato-Intervention fand der Wendehals den Weg zurück in die Opposition. „Studio B“ wurde zur stärksten Stimme der Opposition und gewährte in seinen Räumen auch dem oppositionellen Radio „B2-92“ Asyl. Die Schließung der beiden Sender treibt nun täglich den Protest auf die Straße.

Bislang war Milošević’ Stärke noch immer die Schwäche der Opposition. Drašković führt zwar deren stärkste Partei an, hat sich aber schon wiederholt als gnadenloser Opportunist geoutet. Zudem sind seine ideologische Verankerung in der Welt serbischer Mythen, seine royalistische Gesinnung und seine nationalistischen Überzeugungen nicht gerade Ausdruck demokratischer Reife.

Sein Gegenspieler Djindjić, ein habilitierter Philosoph, ist zwar überzeugter Demokrat und Republikaner. Das allerdings hinderte ihn nicht, während des Bosnien-Kriegs den radikalen Serbenführer Radovan Karadžić zu hofieren. Beiden Oppositionsführern gemeinsam ist, dass sie zu zentralen Fragen der serbischen Politik schweigen, sie höchstens am Rand erwähnen oder sie jedenfalls nicht zum Gegenstand öffentlicher Debatte machen, sei es, weil sie in der Substanz mit dem Regime einig sind, sei es, dass sie Angst haben, ihre Wählerschaft vor den Kopf zu stoßen.

Zu diesen Fragen gehören die Schuld am Krieg in Kroatien und in Bosnien, das Kosovo und seine Zukunft, die verschleppten Albaner in serbischen Gefängnissen sowie die Deserteure und Kriegsdienstverweigerer. Weshalb sprechen die Oppositionsführer nicht öffentlich über die serbische Schuld an der Ermordung von über 7.000 Muslimen in Srebrenica, das größte Massaker seit Ende des Zweiten Weltkriegs auf europäischem Boden? Drašković hat das Kosovo öfter als Jerusalem Serbiens bezeichnet, das nie hergegeben werden dürfe. Djindjić hat sich im Sommer 1998 während der Vertreibung von 300.000 Albanern, immerhin Mitbürger, die er ja regieren wollte, vornehm zurückgehalten. Über die Zukunft des Kosovos schweigen sie heute beide.

Gegen über 23.000 Serben haben Militärgerichte Anklage wegen Desertion und Nichtbefolgung des Einberufungsbefehls erhoben, Hunderte von ihnen sitzen im Gefängnis wie auch mindestens 1.300 aus dem Kosovo verschleppte Albaner, ohne dass die Oppositionsführer sich öffentlich und lautstark für sie einsetzen. Sie haben offenbar Angst, in der Gesellschaft in den Ruch des Vaterlandsverrats zu kommen, dessen die Regierung sie ohnehin bezichtigt.

Veran Matić, Chefredakteur des nun geschlossenen Rundfunksenders „B2-92“, forderte vor wenigen Tagen, „die Ursachen des Krieges zu debattieren, Verbrechen aufzudecken und nach der Verantwortung zu fragen“. Das hat die Opposition nie mit der gebotenen Gründlichkeit betrieben, weil sie selbst in die Verantwortung verstrickt war. Sie glaubte jahrelang, sich um die unbequeme Debatte herummogeln zu können. Der Preis ist ein Verlust der Glaubwürdigkeit. Viele Serben trauen den Oppositionsführern nicht über den Weg. Sie gehen davon aus, dass alle Politiker gleich sind und letztlich dasselbe wollen: den Zugang zu den Pfründen.

So bleibt nur zu hoffen, dass „Otpor“, die neue Widerstandsbewegung, die sich bislang durch viel Mut und Phantasie ausgezeichnet hat und die bislang vom Machtkartell nicht korrumpiert wurde, die zentralen Fragen der jüngsten Geschichte Serbiens aufs Tapet bringt und den oppositionellen Parteien die Debatte – rechtzeitig vor den im Herbst anstehenden Wahlen – aufzwingt. Es geht um einen Prozess der Katharsis als Voraussetzung für den Aufbau einer Zivilgesellschaft, die eine demokratische Entwicklung einleiten könnte.

Eine Garantie für einen friedlichen Machtwechsel ist diese Katharsis nicht. Einer aktuellen Umfrage eines unabhängigen Meinungsforschungsinstituts in Belgrad zufolge sind 35 Prozent der Bevölkerung zur Anwendung von Gewalt bereit, um das herrschende Regime zu stürzen. Nur 17 Prozent halten einen Machtwechsel durch Wahlen für möglich.

Hinweise:Milosevic’ Stärke war bislang noch immer die Schwäche der serbischen OppositionViele Serben meinen, alle Politiker wollten das Gleiche: Zugang zu den Pfründen