Eritreer fliehen vor dem Krieg

Äthiopiens Regierung hat ihr Minimalziel schon erreicht: Sie kann aus einer Position der Stärke heraus einen vorteilhaften Frieden aushandeln

von PETER BÖHM

Obwohl sich der äthiopische Vormarsch am Wochenende etwas verlangsamt zu haben scheint, hat in Eritrea eine Massenflucht eingesetzt. Der äthiopischen Armee war es zu Beginn des Angriffs vor zehn Tagen erstaunlich schnell gelungen, die westliche Front zu durchbrechen. Sie schnitt die Straße Mendefera–Barentu ab und unterbrach somit den gesamten eritreischen Nachschub in den Südwesten.

Durch den rasanten äthiopischen Vormarsch droht nach Angaben der UNO-Hilfsorganisationen Unicef und dem Welt-Ernährungsprogramm (WEP) in Eritrea eine humanitäre Katastrophe. Nach ihren Schätzungen, die sie von der eritreischen Regierung übernahmen, sind inzwischen eine Million Menschen auf der Flucht. Ohnehin waren in Eritrea durch den Konflikt schon 300.000 Menschen aus ihren Gebieten nahe der Grenze zu Äthiopien vertrieben worden. Mehrere zehntausend haben sich in den Sudan gerettet, andere wurden aus Barentu und Agordat evakuiert und strömen nun nach Keren oder Asmara, wo in aller Eile Lager errichtet werden müssen. UNO-Generalsekretär Kofi Annan wurde deshalb am Samstag mit den Worten, er sei „zutiefst erschrocken, dass unter diesen Umständen ein großer militärischer Vormarsch fortgesetzt wird“, zitiert.

Bisher hat sich Äthiopien internationalem Druck gegenüber erstaunlich resistent gezeigt. Der neuerliche Angriff zeigt, dass Äthiopien die Hilfe von außen als selbstverständlich betrachtet. Denn nicht nur acht Millionen Menschen im eigenen Land müssen mit Nahrungsmitteln versorgt werden. Auch Eritrea ist nun auf Hilfe angewiesen: Flüchtlingslager im Sudan und Vertriebenenlager im eigenen Land müssen errichtet werden. Das WEP hat angekündigt, am Montag mit den ersten Hilfsflügen von Kenia aus nach Eritrea zu beginnen.

Wie Äthiopien weiter vorgehen wird, ist schwer zu sagen, denn die Regierung in Addis Abeba dürfte von den raschen Erfolgen selbst überrascht worden sein. Erschwert wird die Antwort auf die Frage nach den Kriegszielen auch dadurch, dass Äthiopiens Regierung keine demokratische ist, sondern nach wie vor in der Tradition des abessinischen Kaiserreichs steht. Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die Pressemitteilungen der Regierung, die vor „heldenhaften äthiopischen Truppen“ nur so wimmeln, und die Tatsache, dass die Entscheidungen von einem „Obersten Kriegsrat“ getroffen werden, über den nicht viel mehr nach außen dringt, als dass es ihn gibt.

Äthiopiens Minimalziel ist schon so gut wie erreicht: aus einer Position der Stärke heraus die eroberten Gebiete gegen einen für Äthiopien vorteilhaften Frieden zu handeln – mit eritreischen Reparationszahlungen und, wie Ministerpräsident Meles Zenawi zu Beginn des Krieges im Mai 1998 erklärte, „einer Lektion für Eritrea, damit diesen Leuten die Angriffspläne ein für alle mal vergehen“.

Das Maximalziel, Eritreas Hauptstadt Asmara zu erobern und dort eine andere Regierung einzusetzen, dürfte jedoch schwieriger zu erreichen sein. Äthiopien hätte dafür eritreische Oppositionsgruppen, die es in Addis Abeba versammelt hat, zur Verfügung. Aber Asmara liegt im zentralen Hochland, und die eritreische Armee müsste die Zufahrtstraßen dorthin besser verteidigen können. Die Einnahme von Asmara würde wohl außerdem einen Guerrillakrieg nach sich ziehen, denn die Regierung Eritreas hat angekündigt, sich wie schon während des fast 30jährigen Unabhängigkeitskrieges in den unzugänglichen Norden zurückzuziehen, um Asmara zurückzuerobern.

Seit Donnerstag hat die äthiopische Regierung wiederholt betont, dass sie keine Gebietsansprüche an Eritrea habe. Aber diese Versicherung ist mit Vorsicht zu genießen, denn just am selben Tag hat sie, quasi als Testballon, bei einigen westlichen Botschaften in Addis Abeba die Absicht ventiliert, den eritreischen Hafen Assab zu annektieren. Äthiopien ist seit der Abspaltung Eritreas ohne Hafen. Davon, was die westlichen Vertretungen der Regierung Äthiopiens geantwortet haben, wird es abhängen, ob in den nächsten Tagen auch Kämpfe an der Bure-Front ausbrechen, an der Eritrea noch äthiopisches Territorium kontrollieren soll.