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: WLADIMIR KAMINER über Relativitätstheorien

DER WISSENSCHAFTLICHE KONGRESS AUF DER SCHÖNHAUSER ALLEE

Vor dem Eingang in das Einkaufszentrum Schönhauser Allee Arkaden in Prenzlauer Berg sitzt ein Bettler auf einer Pappkiste. Jedes Mal, wenn ich an ihm vorbeikam, kuckte ich weg. Es war mir peinlich, ihm in die Augen zu schauen. Der Kerl erinnert mich an jemanden, den ich oft im Fernsehen sah. Aber an wen?

Eines Tages fiel es mir ein: Dieser lustige, etwas verwirrte Blick, das hochstehende Haarbüschel, der graue Schnurrbart – das habe ich in der Herschy-Limonade-Werbung gesehen. Der Kerl sieht Albert Einstein, dem verrückten Erfinder der Relativitätstheorie, absolut ähnlich. In diesem Moment konnte ich auch seine Sprüche, die er auf dem Karton schreibt, viel besser nachvollziehen: „Zwei Mark ist kein Geld“ stand da zum Beispiel drauf.

„Hey Alter, alles ist relativ, nicht wahr?“ Ich zwinkerte ihm zu und legte zwei Mark in seinen Becher. Der Einstein tat so, als ob er mich nicht verstand, er wollte wahrscheinlich nicht, das seine Tarnung aufflog. „Alles ist relativ – oder was?“ fragte ich ihn noch einmal. Daraufhin packte er seine Sachen und ging auf die andere Seite der Schönhauser Allee rüber.

Dort begrüßte ihn ein anderer Kerl – der auch ein bekanntes Gesicht trug. Irgendwo habe ich diesen Dicken schon mal gesehen: Glatze, kalte Augen, fette Wangen, breites Kinn – das ist ohne Zweifel Niels Bohr – der dänische Erfinder der Quantentheorie. Doch was macht dieser Mann hier auf Schönhauser Allee? Ganz klar: Er trifft sich insgeheim mit Albert Einstein, um in aller Ruhe mit ihm die aktuellen Probleme der modernen Physik auszudiskutieren.

Hier findet ein geheimer wissenschaftlicher Kongress statt. Beide Wissenschaftler gehen die Schönhauser Allee entlang und setzen sich auf die Bank vor dem Sportwarengeschäft. Einen besseren Platz für einen Kongress kann man hier in der Gegend gar nicht finden. Dort warten auch schon andere Wissenschaftler auf sie. Alle begrüßen sich kollegial. Niels Bohr packt seine Plus-Markt-Tüte aus und holt vier Flaschen Korn sowie mehrere Dosen Bier hervor. Der Kongress kann beginnen.

Von den anderen Wissenschaftler kenne ich niemanden, nur den Friedrich Engels mit seiner verlebten Braut, weil die beiden jeden Tag auf dieser Bank sitzen, egal wie das Wetter ist. Engels hat sich anscheinend vor kurzem den Bart abgeschnitten, aber nur die eine Seite, jetzt sieht er total schräg aus.

Er hält seinen Bart in der Faust und erzählt Einstein irgendwas Lustiges. Leider kann ich ihn nicht verstehen. Vielleicht erzählt ihm Engels etwas über die Unvermeidlichkeit der neuen sozialen Revolution und der Notwendigkeit, die politische Macht zu ergreifen?

Einstein schüttelt nur den Kopf – alles ist relativ: Ich kann seine Antwort von den Lippen ablesen. Niels Bohr nimmt einen großen Schluck aus der Flasche, dann gibt er sie der Braut von Engels, dann Einstein. Die Flasche ist schnell leer und landet unter der Bank.

Engels mit dem schrägen Bart sieht heute irgendwie traurig aus. Ihm fehlt bestimmt sein Freund Marx sehr. Den habe ich schon eine Ewigkeit hier nicht mehr gesehen. Früher saßen die beiden gerne zusammen auf dieser Bank und tranken einen auf die „Deutsche Ideologie“. Mit einem Schluck schaffte Marx die Hälfte, die andere war dann für Engels bestimmt.

Das nichts ahnende Publikum läuft an der Bank vorbei, das gemeine Volk interessiert sich so gut wie gar nicht für Relativitätstheorien – mehr für Konsumtheorien. Junge Mütter mit Kinderwagen machen einen großen Bogen um die Bank. Sie wollen dadurch verhindern, dass ihre Kinder die Wissenschaftler kennen lernen. Werden sie aber trotzdem! Denn solange die Sonne scheint, wird der Kongress weiterlaufen – die Wissenschaft auf der Schönhauser Allee ist nämlich unsterblich und darauf trinken wir einen.