Eine Theorie wird zur Institution

Theodor W. Adorno und Max Horkheimer gründeten nicht nur die Frankfurter Schule, sie sorgten auch dafür, dass sie überlebt. Wie ihnen das gelang, beschreibt Alex Demirovic in seiner herausragenden Studie

Die Frankfurter Schule? Schon wieder? Wissen wir nicht wirklich alles über sie? Diese Frage kann man leichten Herzens verneinen. Alex Demirovic’ Buch bietet keineswegs nur eine weitere Historiografie des Instituts, seine Analyse der Jahre 1950 bis 1968 wählt einen neuen wissenssoziologischen Fokus. Der Autor führt vor, wie Horkheimer und Adorno, nachdem sie die Krise der Rationalität bürgerlicher Gesellschaften radikal analysiert hatten, an einem Neuentwurf von Vernunft und emanzipatorischer Praxis arbeiteten. Als Fluchtpunkt ihrer theoriepolitischen Aktivitäten erscheint dabei die Erziehung von nonkonformistischen Intellektuellen. Sie sollten dem Autoritarismus einer vollends verwalteten Welt widerstehen und die politische Kultur des restaurativen Adenauer-Deutschlands nachhaltig demokratisieren.

Anders als Rolf Wiggershaus geht Demirovic davon aus, dass die späte Kritische Theorie nicht zum Zierrat der restaurativen Gesellschaft verkommen war und keineswegs erst durch das politisierte Gelärme der Studentenbewegung aus ihrer Agonie geholt wurde. Er begreift die Kritische Theorie der 50er- und 60er-Jahre als eine Form aktiver Wissenspolitik, die mit Foucault den Impetus teilt, die Vernunft radikal über ihre eigenen Grenzen aufzuklären. In Konfrontation zu einem positivistischen Wissenschaftsbetrieb, der Erfahrung nur als methodisch kontrollierte akzeptiert und die Vernunft gehorsam der Empirie unterordnet, setzten Adorno und Horkheimer mit einen neuen Wissenschaftstyp auch einen neuen intellektuellen Habitus durch – einen Habitus, der in der Bundesrepublik sehr einflussreich geworden ist. Die Fruchtbarkeit der Theorie erweist sich, argumentiert Demirovic, in dem erfolgreichen Versuch, die Vernunft zu einer sozialen Kraft zu machen.

Zwar nimmt sich besonders die Frühphase des Instituts theoriegeschichtlich spektakulär aus (etwa Horkheimers denkwürdige Antrittsrede als Institutsdirektor 1931, in der er eine interdisziplinäre Sozialforschung anmahnt oder jene gewaltige „Dialektik der Aufklärung“ von 1944). Doch Demirovic insistiert überzeugend auf der Bedeutung der Institutionenpolitik: Erst Adornos und Horkheimers zeitintensive und Nerven raubende Bemühungen, das Institut aufzubauen und sein Fortbestehen zu sichern, haben ihrer Kritik der Gesellschaft zu dauerhafter Wirkung verholfen. Schließlich erhält man einen festen Platz im Traditionskanon der Soziologie weder automatisch noch über den offenen und fairen Wettbewerb der Argumente. Weil sie der konservativen Auffassung von Wissenschaft als einem politik- und machtfreien Territorium zutiefst misstrauten, bastelten Horkheimer und Adorno an der materiellen Infrastruktur für ihre Theorie. 1973 resümierte Horkheimer: „Die Kritische Theorie wäre nicht so entscheidend geworden, wenn das Institut nicht wieder aufgelebt wäre in Frankfurt.“

Wie Horkheimer und Adorno ihre Theorie vermittelten, nachdem sie aus dem amerikanischen Exil zurückgekehrt waren, darauf lenkt Demirovic zu Recht den Blick. Eine Würdigung dieser intellektuellen Alltagspraktiken hat bisher gefehlt: Wir beobachten also einen Horkheimer, der als Rektor der Frankfurter Universität Erstsemester zu politischem Engagement in ihrem neuen „Biotop Universität“ aufruft – während etwa noch sein Vorgänger Georg Hohmann den jungen Leuten empfahl, sie sollten dem Werteverfall und Nihilismus in musikalischen und sportlichen Vereinen entgegenwirken. Wir erleben einen Adorno, der – ganz anders, als es der Mythos will – die Studenten nicht schon durch seine bloße Anwesenheit einschüchtert, sondern erfolgreich zur Widerrede animiert. Die Sozialisation in die Theorie, das wird hier sehr deutlich, verlief ganz zentral über den Unterrichtsprozess. Das bezeugen eindrücklich die bisher nicht publizierten Seminarprotokolle: Ein geduldiger, aufmerksamer, selbstkritischer Adorno müht sich da manchmal stundenlang an der Erklärung eines einzigen Begriffs ab, unterbrochen von mehr und weniger intelligenten Nachfragen. Mit der Rekonstruktion dieser Seminardiskussionen entlang zentraler Begrifflichkeiten (Dialektik, Ideologie, Totalität, Vermittlung etc.) hat Demirovic ganz nebenbei ein kleines Lehrbuch der Kritischen Theorie mitgeliefert.

Dass die Studenten in Frankfurt Soziologie studieren und bereits ab 1954 mit einem Diplom abschließen konnten, verdankten sie übrigens dem Engagement ihrer Lehrer in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Die Wissenschaft der Soziologie war ein Trojanisches Pferd, das die Frankfurter in die akademische Arena schoben, um mit Marx und Hegel den „versteinerten Universitätsbetrieb aufzubrechen“ (Horkheimer). Im Kampf um die Etablierung einer eigenständigen Disziplin mit einem verbindlichen Fächerkanon und einer einheitlichen Diplomprüfung sahen Adorno und Horkheimer die Chance, auch gleich einen neuen Akademikertyp durchzusetzen. Daher attackierten sie etwa René König oder Helmut Schelsky, die in ihren Augen – wenngleich von unterschiedlichen Positionen aus – die Soziologie ganz im Sinn der Väter als Ordnungswissenschaft entwarfen. Nichts fürchteten die Frankfurter als eine verwissenschaftlichte Form der Sozialpolitik mit statistischen Mitteln – das war die Horrorvision. Um sie zu verhindern, quälten sich Adorno und Horkheimer über Jahre in die Ausschusssitzungen und Kolloquien der Gesellschaft für Soziologie. Sie wollten in ihrem Fach das Erbe des Idealismus bewahren und der anspruchsvollen Bildungsidee in der Tradition der deutschen Philosophie eine moderne Gestalt verleihen. Konkret: die verstehende Soziologie vom Schlage Max Webers mit dem empirischen Ansatz Paul Lazarsfelds kombinieren, um die großen Fragestellungen mit den raffiniertesten Methoden zu bearbeiten, normativ, aber ohne die Soziologie mit wissenschaftlichem Sozialismus zu verwechseln.

Dass schon bald eine neue Studentengeneration sich die Stichworte für ihre Rebellion bei der Kritischen Theorie besorgte, hat die Institutsmitglieder eher negativ überrascht. Denn als Idealtyp des nonkonformistischen Akademikers haben sie die protestierenden Studenten wohl nicht begriffen, auch wenn die Protestbewegung erheblich zur dauerhaften gesellschaftlichen Durchsetzung der Kritischen Theorie beitrug.

Alex Demirovic’ an Foucault, Bourdieu und Gramsci geschärfter Blick auf die intellektuellen Praktiken Adornos und Horkheimers macht seine Institutsgeschichte zu einem neuen Standardwerk über die späte Kritische Theorie. In einem Marathon durch die Archive hat Demirovic jene Wissenspraktiken rekonstruiert, die die nachhaltige Institutionalisierung der Kritischen Theorie leisten und die Theorie damit über ihren unmittelbaren Wahrheitsgehalt hinaus stabil halten als Orientierung für das, was Kritik noch heute zu leisten hat. Vernunft – darin bestätigt Demirovic’ Geschichte der Frankfurter Schule Foucault – konstituiert sich auch in der Wissenschaft immer nur als eine spezifische Praxis. Mit seiner diskursanalytischen Studie, die die Verwandlung einer Theorie in eine Institution vorführt, hat Demirovic nicht weniger vorgelegt als eine Archäologie der kritischen Vernunft.

ALEXANDER BOGNER

Alex Demirovic: „Der nonkonformistische Intellektuelle. Die Entwicklung der Kritischen Theorie zur Frankfurter Schule“. Suhrkamp, Frankfurt/M. 1999, 983 Seiten, 39,80 DM

Hinweis:Einen Platz im Traditionskanon erhält man nicht im fairen Wettkampf der ArgumenteAdorno schüchterte seine Studenten nicht ein, sondern animierte sie erfolgreich zur Widerrede