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: Gespräch mit dem Wittgenstein-Interpreten Logi Gunnarsson

DIE LEITER DES VERRATS

Ludwig Wittgenstein versteht sein erstes Hauptwerk, den „Tractatus logico-philosophicus“, als eine Leiter, die der Leser wegwerfen sollte, sobald er an ihr hinaufgestiegen ist. Logi Gunnarsson, geboren 1963 in Reykjavík (Island) und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Berliner Humboldt-Universität, hat ein Buch darüber geschrieben: „Wittgensteins Leiter“.

taz: Wie entstand Ihr Interesse an Wittgenstein?

Logi Gunnarsson: In Bezug auf den „Tractatus“ beschäftigen sich die meisten Interpreten mit den logischen Fragen. Mich hat das Paradox, das eigentlich das Werk rahmt, gefesselt. Wittgenstein sagt am Anfang, dass er dem Ausdruck der Gedanken eine Grenze ziehen möchte. Ganz am Ende, nachdem er das Werk fertig geschrieben hat, sagt er, dass das Werk eine Leiter formt, die man am Ende wegwerfen muss, nachdem man erkannt hat, dass alle Sätze des Buches Unsinn sind. Ein Paradox: Das Werk soll gleichzeitig erläutern, sozusagen Erleuchtung bringen und besteht trotzdem aus Unsinn.

Das ist dann auch der Grund gewesen, dass Sie zwei fiktionale Autoren die Auseinandersetzung mit Wittgensteins Paradox haben führen lassen?

Die meisten Interpreten ignorieren dieses Paradox. Oder wenn sie es nicht ignorieren, tun sie so, als ob das nichts ändern würde. Aber es ändert natürlich sehr viel. Denn wenn das wirklich Unsinn ist, dann müssen ihre Interpretationen ja auch unsinnig sein. Um diesem Problem zu entgehen, habe ich ein Buch verfasst, dessen Autor ich nicht bin – denn dann sage ich ja auch nichts Unsinniges.

Zweifellos aber sind Sie der Schöpfer von Johannes Commentarius und Johannes Philologus, der beiden fiktiven Autoren. Wo kommen die her?

Das ist eine Anspielung auf Johannes Climacus, ein Pseudonym von Kierkegaard. Ich habe diese Namen gewählt, um die Ähnlichkeit zwischen Kierkegaards Werk und dem „Tractatus“ zu betonen. Dieser Johannes Climacus verwickelt sich langsam im Laufe des Werkes in unsinnige Sätze. Und Ähnliches will ich mit diesen anonymen Autoren machen. Sie verwickeln sich ebenfalls in Unsinn – nicht ich, sondern sie!

Wittgenstein schlug 1912 seinem Mitstudenten Dave Hume Pinsent vor, mit ihm nach Island zu fahren. Der fand das eine verrückte Idee und willigte ein. Manche meinen, Wittgenstein wäre in Pinsent verliebt gewesen. Was meinen Sie?

Ich glaube, er war sogar stark in ihn verliebt. Das beruhte aber wohl nicht auf Gegenseitigkeit, soweit ich weiß. Er widmete ihm übrigens den „Tractatus“.

Nach Pinsents Tagebuchaufzeichnungen trafen sie in Island lediglich einige Bauern, bei denen sie übernachteten, und den Inhaber eines Fotogeschäftes in Reykjavík. Mit wem hätten sie sich seinerzeit treffen können, um ein philosophisches Gespräch zu führen?

Es gibt einen isländischen Denker in dieser Zeit namens Sigurdur Nordal ...

... nach dem das Nordal-Institut, ein Kulturinstitut in Reykjavík, benannt ist ...

... aber er war kein Philosoph. Es existierte zwar in dieser Zeit eine neu gegründete Universität, aber nicht mit dem Fach Philosophie. Doch Wittgenstein hatte ja eine Vorliebe dafür, sich mit einfachen Menschen zu umgeben. Und hat Philosophen sowieso nicht gemocht.

Aber er wird nichts dagegen gehabt haben, dass die Bauern in Island als besonders gebildet galten? Schließlich hat er später selbst in Österreich Bauernkinder unterrichtet.

Sicher nicht. Ich glaube, er hat aber oft gedacht, dass Bildung verdirbt, und schon eine Leidenschaft für die Wahrheit des Einfachen gehabt.

Noch mal zurück zu Onkel Philologus und seinem Neffen Commentarius. Es gibt noch einen bekannten Onkel mit Neffen, nämlich den Hamburger Professor Lidenbrock und seinen Neffen Axel, die in Jules Vernes’ Buch „Reise zum Mittelpunkt der Erde“ nach Island fahren, um dort den Einstieg zu finden ...

Das ist tatsächlich ein Zufall.

Im Vorwort Ihres Buches schreiben Sie, Onkel und Neffe seien Ihre literarischen Erfindungen, um sich sogleich von deren Aufzeichnungen zu distanzieren. Warum werfen Sie Ihre Leiter so früh weg?

Commentarius schreibt ein Vorwort zu dem Text von Philologus und einen Kommentar. Er hat eine therapeutische Interpretation vom „Tractatus“ und meint, man solle im Laufe der Lektüre etwas über sich selbst erfahren. Durch die Veröffentlichung des Buches mit dem Aufsatz von Philologus und seinem Kommentar beabsichtigt er, die Struktur des „Tractatus“ zu imitieren. Er will, dass dieses Buch auch als eine Leiter funktioniert und dass man den Text von Philologus liest, um ihn am Ende als Unsinn wegzuwerfen. Das ist seine Absicht.

Warum distanzieren Sie sich von Ihrer Autorenschaft gleich am Anfang Ihres Buches?

Es stimmt, dass ich gar nichts zum „Tractatus“ sage. Commentarius legt ja eine ausführliche Interpretation vor. Und man könnte den Eindruck gewinnen, ich selbst sei Commentarius. Aber ich sage: Ich bin nicht er, und dafür gibt es gute Gründe. Ich werde sie zwar nicht alle ausführen, besser gesagt, ich möchte sie nicht ausführen, denn wie Wittgenstein am Ende des „Tractatus“ sagt: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ Es ist mir wichtig, im Buch zu schweigen. Aber weil wir hier ein Interview führen und das Buch schon vorliegt, kann ich ja trotzdem etwas dazu sagen. Nämlich dass Commentarius im Laufe seiner Interpretation diese eigentlich verrät. Er verrät den „Tractatus“. Deshalb soll meiner Meinung nach die Leiter nicht weggeworfen werden, wenn man mit Philologus fertig ist, sondern erst dann, wenn man eingesehen hat, dass Commentarius den „Tractatus“ verraten hat.

Die Leiter des Verrats.

Mehr möchte ich dazu nicht sagen. Sonst würde auch ich den „Tractatus“ verraten. Es soll meinen Lesern überlassen sein, die Leiter hochzusteigen und sie wegzuwerfen. Deshalb muss ich jetzt schweigen.

INTERVIEW: WOLFGANG MÜLLER

Logi Gunnarsson: „Wittgensteins Leiter“. Philo Verlag, Bodenheim 2000, 120 Seiten, 25 DM