Verachtung im Suffix

Nicht bloß politisch korrekte Sprachregelung: Wer Tschechei sagt, nimmt der Bevölkerung Tschechiens das Gesicht. Eine kleine Morphologie der Endung „-ei“ bei Ländernamen

von CHRISTIAN SEMLER

Zu Beginn der 90er-Jahre, als die Ehe zwischen Tschechen und Slowaken auf, wie man so sagt, zivilisierte Weise geschieden wurde, erreichte deutsche Redaktionen ein Schreiben der auf den westlichen Landesteil geschrumpften tschechischen Botschaft. Man möge doch bitte den neuen Staat, die Tschechische Republik, künftig in der Kurzform „Tschechien“ nennen, nicht aber „Tschechei“. Letzterer Name erwecke ungute Erinnerungen an den entsprechenden Sprachgebrauch während der Nazizeit. Die deutschen Medien, darunter auch die taz, willfuhren diesem Wunsch. Was aber nur zur Folge hatte, dass sich eine Kluft auftat zwischen der „Tschechei“ der Alltagssprache und „Tschechien“, diesem Homunculus politischer Korrektheit.

Zugegeben, die Tschechen befanden sich in einer schwierigen Lage, weil sie selbst für ihr neues Land kein Substantiv zur Verfügung hatten. Český kommt im Tschechischen nur als Adjektiv vor. Česko wäre möglich, ist aber ungebräuchlich und vereinnahmt die beiden anderen Länder der böhmischen Krone, Mähren und Schlesien. Umso wichtiger war es für die auf das offiziöse „Tschechische Republik“ zurückgeworfenen Tschechen, dass wenigstens die Deutschen den richtigen, speziell für sie ausgesuchten Ländernamen benutzen.

Aber warum halten die Deutschen hartnäckig an „Tschechei“ fest? Ein etwas genauerer Blick auf die Suffixbildungen mit „-ei“ erweist, dass die Nazis nicht umsonst so gern von der „Tschechei“ sprachen. Bei „-ei“ handelt es sich um ein Kollektivsuffix, was „Ungezähltheit“ bedeutet, im Gegensatz zum Plural, der „Gezähltheit“ meint. „Ungezähltheit“ aber ist nach Meinung des Philologen Norbert Reiter gleichbedeutend mit Entindividualisierung, Aberkennung des Gesichts. Ob ein abwertender Akzent mitschwingt, hängt nach Reiter davon ab, an welches Substantiv „-ei“ angehängt wird. Bei Sachen wirkt „-ei“ neutral, zum Beispiel bei Handwerksbetrieben: Schlosserei, Bäckerei. Hier bezeichnet das Kolletivsuffix alle Gegenstände, die zur Ausübung des jeweiligen Handwerks vonnöten sind.

Ganz anders, wenn Menschen ins Spiel kommen. Lauferei, Rechnerei und Streiterei sind eindeutig negativ besetzt. Also die vielen Gänge, die erledigt werden müssen, das Hinundherrechnen ohne gewünschtes Ergebnis oder das erfolglose Herumschreien. Das gilt nicht nur für die Suffixbildung „-erei“ sondern auch für „-lei“, ursprünglich eine Verkleinerungsform, ein Diminutiv: Heuchelei von hauchen, Quengelei von Quengeln, das vom nicht mehr gebräuchlichen Verb quengen, gleich zwingen, kommt, oder Liebelei, das Wort, das die kleine, konsequenzlose Liebe meint.

Bei Ländernamen drückt das Suffix „-ei“ die Ungezähltheit, Missbilligung oder Angst vor ungeregelten, chaotischen und unzivilisierten Zuständen aus. Bei der „Walachei“ liegt der Fall eindeutig. Bei „Kaschubei“, erst recht bei „Mongolei“ ist zudem noch die vorstaatliche, quasi stammesmäßige Form des Zusammenlebens gemeint. Interessant ist der Fall der untergegangenen „Tschechoslowakei“: Hier hatten der 70-jährige Gebrauch und zum Teil positiv besetzte Konnotationen dazu geführt, dass sich die negative Ursprungsbedeutung des Suffix abgeschliffen hat, während sie bei der Länderhälfte „Tschechei“ erhalten blieb. Im Alltagsgebrauch herrschte freilich auch während der Zeit der realsozialistischen Tschechoslowakei die „Tschechei“ vor, während im Milieu der deutschen Intelligenzija die Abkürzung ČSSR (analog zu DDR und BRD) in Mode kam.

Kompliziert liegt der Fall bei der Türkei. Bis zur Gründung der modernen Türkei durch Kemal Atatürk gab es den Ländernamen offiziell gar nicht. (Genauso wenig wie die Tschechei oder Slowakei vor dem Ende des Habsburgerreiches 1918. Erstere hieß vorher Böhmen, letztere Oberungarn). Das Land hieß Osmanisches Reich, seine Einwohner nannten sich Osmanen, und „Türke“ galt als Schimpfwort, das erst durch Atatürk geadelt wurde. Dennoch war „Türkei“ in der deutschen Literatur in Gebrauch, allerdings bis ins 19. Jahrhundert überwiegend in negativ-abwertender Bedeutung, wozu die Publizistik während der „Türkenkriege“ bis ins 18. Jahrhundert hinreichend Belege liefert.

In der deutschen Literatur gibt es Beispiele der nachschwingenden negativen Konnotation. So etwa in Goethes „Faust“. Im „Osterspaziergang“ heißt es: „Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen, als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei, wenn hinten, weit in der Türkei, die Völker aufeinander schlagen.“ Das wohlige Schauern angesichts fernen Unglücks, das uns Heutigen so unbekannt auch nicht ist, wird sodann von Goethe noch pointiert: „Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus und sieht den Fluss hinab die bunten Schiffe gleiten; dann kehrt man Abends froh nach Haus und segnet Fried und Friedenszeiten.“

Die „Türkei“ hat für Europa ihren Schrecken verloren, geistert in der Phantasie aber fort als Synonym für unlösbare Wirren. Freilich nicht ganz. In Reise- und Erlebnisberichten des 19. Jahrhunderts wird der offiziell gar nicht existierende Ländername „Türkei“ zunehmend objektiviert und gleichbedeutend mit dem Begriff „Osmanisches Reich“ gebraucht. So verwendet ein preußischer Offizier, Herr von Moltke, den es bei seinen Lehr- und Wanderjahren für längere Zeit ins Osmanische Reich verschlagen hat, in seinem Erlebnisbericht ganz unbefangen den Namen „Türkei“. Doch in Meyers Konversationslexikon von 1898/1902 wird man vergeblich nach der „Türkei“ suchen.

Sollen wir also auch bei „Tschechei“ auf die wohltuende Wirkung der Zeit setzen und das politisch korrekte Tschechien als untauglichen Versuch verschwinden lassen? Besser nicht.Zwar werden die positiven Auswirkungen des Kampfs um Begriffe oft überschätzt, aber dem Suffix „-ei“ haftet in diesem Fall noch so eindeutig der alte deutsche Größenwahn an, dass sich der Einsatz lohnt.

Also dennoch und weiterhin: Tschechien!

Hinweis:Das Land hieß Osmanisches Reich, seine Einwohner nannten sich Osmanen, und „Türke“ galt als Schimpfwort, das erst durch Atatürk geadelt wurde