Das Grundgesetz, ein Lyrikband?

Parteispendenaffäre, Bundeswehr im Kosovo: Der Grundrechte-Report listet die Fehler des Staates auf

BERLIN taz ■ Der DDR-Bürgerrechtler Jens Reich hat Reformen des Parteiensystems in der Bundesrepublik angemahnt. Bei der Präsentation des Grundrechte-Reports 2000 sagte der Mitbegründer des Neuen Forums gestern: „Ich habe gelernt, dass das Grundgesetz keine lyrikfreie Verfassung ist.“

Die Parteispenden-Affäre habe gezeigt, dass die Rechte und Pflichten der Parteien nicht klar genug geregelt seien. „Einige Politiker“ hätten sich in der Parteispenden-Affäre über Grundgesetz-Artikel hinweggesetzt, als wären diese „Lyrik“. Sie hätten damit die Kluft zwischen Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit in der Bundesrepublik verdeutlicht. Deshalb seien „Reformen gefragt“.

Reich warnte davor, die Gewaltenteilung im Grundgesetz zu einem „virtuellen“ Grundsatz verkommen zu lassen. Weil es keine ausreichende Trennung gebe zwischen der „Partei als Willensbildner, als ausführender und gesetzgebender Gewalt“, drohten die Parteien die Gewaltenteilung zu überlagern. Exemplarisch nannte Reich die Doppelrolle des Bundeskanzlers als Parteivorsitzenden und die Auswahl der Verfassungsrichter durch eine „Parteikommission“.

Der von Bürgerrechtsorganisationen erstellte Grundrechte-Report erscheint bereits im vierten Jahr und ist als „alternativer Verfassungsschutzbericht“ konzipiert. In rund 40 Beiträgen analysieren Wissenschaftler und Journalisten Verstöße von Staat und Behörden gegen grundlegende Verfassungsartikel. Schwerpunkte des diesjährigen Berichts sind außer der Parteispendenaffäre der Einsatz der Bundeswehr im Kosovo und die anhaltende Ungleichheit in Ost- und Westdeutschland.

Einen „Pfahl im Fleisch“ nannte Friedensforscher Egon Bahr (SPD) die noch immer fehlende Gleichheit von Ost- und Westdeutschen. Die Analyse der ostdeutschen Autorin Daniela Dahn sei „kaum zu widerlegen“. Unter dem Titel „Prüfstein Verfassungswirklichkeit“ kritisiert Dahn, dass ostdeutsche Bürger bis heute in verschiedenster Hinsicht rechtlich benachteiligt werden, zum Beispiel durch unterschiedliche Verjährungsfristen im Strafrecht oder längere Probezeiten für Hochschuldozenten und Lehrer. Bahr forderte, solche Unterschiede in einer „überschaubaren Zeit“ zu beseitigen.

Zweifel äußerte Bahr außerdem an der Verfassungsmäßigkeit der Wehrpflicht. Weil Deutschland inzwischen „von Freunden umzingelt“ sei, müsse eine Grundsatzdebatte über die Wehrpflicht geführt werden.

ASTRID GEISLER