Das Stück

■ „Tragischer Karneval für ein Mars-Theater“

Bei den allermeisten Künstlern und Intellektuellen stieß der Ausbruch des Ersten Weltkriegs auf Zustimmung, ja auf Begeisterung. Der Krieg wurde bis hin zu Thomas Mann als Aufbruch in eine neue Zeit, als reinigendes Gewitter empfunden. Die Haltung der Eliten war ein genauer Spiegel einer ebenfalls kriegsbegeisterten Bevölkerung, die erst in den immer schlimmer werdenden Grabenkämpfen des Jahres 1917 desillusioniert wurde. Karl Kraus mit seinen während des Ersten Weltkriegs entstandenen „Letzten Tagen der Menschheit“ war dagegen die absolute Ausnahme. Er war von Anfang an Gegner dieses Kriegs: Er beschrieb die geradezu absurde Kriegsbegeisterung an der Heimatfront, die Propagandamaschine der Presse wie auch die immer grausameren Kriegsgreuel.

„Nieda mit Serbieen! Nieda!“ ruft der Demonstrant. „Die Russen und die Serben/die hauen wir in Scherben“ singen Passanten, „Serbien muß sterbien!“ geben andere als Parole aus. „Belgraad bombadiert“, skandiert der Zeitungsausrufer. Innereien eines Serben werden zum innigsten Leibspeise-Ragout eines jungen Mädchens. „Mit den Serben werden wir spielend fertig“, glauben viele und schätzen die Kriegsdauer auf „zwei, drei Wochen höchstens“ und Reporter stimmen Loblieder auf die Kriegsbegeisterung der Menge an: „Tausende und Abertausende sind heute durch die Straßen gewallt. Arm in Arm, Arm und Reich, Alt und Jung, Hoch und Nieder.“

Kraus entfaltet in mehr als zweihundert Szenen mit hunderten von Figuren ein Pandämonium des Ersten Weltkriegs, das achthundert Druckseiten umfassend zehn Theaterabende bräuchte, um vollständig aufgeführt zu werden. Sein Stück ist ein die menschliche Bestialität entlarvendes Panoptikum von Bramabarsierern, Phrasendreschern, Leitartiklern, Vaterlandsverteidigern und „Vaterlandsverrätern“, Kriegsheroen und Kriegsgewinnlern, armseligen Frontsoldaten und journalistischen Ideologieproduzenten.

So wenig die Umstände des Ersten Weltkriegs mit denen des Zweiten Weltkriegs und dem letzten Krieg in Serbien auch vergleichbar sind, so sehr bleibt doch die Kraussche Entlarvung von menschlicher Bestialität, ideologischer Verbrämung und seine Schilderung der Kriegsmaschinerie zeitlos gültig.

Der österreichische Dramatiker Karl Kraus konnte sich eine Aufführung seines Stückes auf dem Theater nicht vorstellen und sagte, er habe einen „tragischen Karneval“ für ein „Mars-Theater“ geschrieben – eine Zeit und einen Ort jenseits bzw. nach der Apokalypse. Die Bremer Aufführung, die nur Ausschnitte aus Kraus Monumentalwerk zeigen kann, findet an einem alptraumhaft-irrealen und gleichwohl realen, ja geschichtsträchtigen Ort statt: dem Bunker „Valentin“ in Bremen-Farge. jl