„Froh, Deutsche zu sein“

DAS SCHLAGLOCH
von VIOLA ROGGENKAMP

Sie sei „froh, Deutsche zu sein“, hört man Angela Merkel des öfteren mit runden Augen erklären, und auch, dass sie nach fast vierzig Jahren wisse, „was es heiße, in einer Diktatur leben zu müssen“, wie bedrückend es gewesen sei, „nicht einfach einen Brief aus der DDR nach Israel“ geschickt haben zu können (so in einem Interview im Deutschlandfunk).

Das ist allerhand und viel auf einmal an Assoziationsmöglichkeiten für das deutsche Publikum und sein Gemüt: eine deutsche Frau, besser noch – ein deutscher Mensch, viel besser noch – ein deutsches Opfer ostdeutscher Diktatur und seine ungeschriebenen Briefe an Juden. Wie soll die Öffentlichkeit das alles verstehen, und was ist darin noch verwoben?

Um uns verständlich zu machen und miteinander zu verständigen, gebrauchen wir Wörter und Sprachbilder, die erzählte wie unerzählte Geschichten in sich tragen. Kein Wortzusammenhang kann wiedergeben, was gefühlsgenau ausgedrückt werden soll. Und die Zuhörenden verändern gemäß ihren Möglichkeiten den emotionalen Sinn des Gehörten, um verstehen zu können, und glauben dann, verstanden zu haben.

Dennoch ist nicht überraschend, dass trotz der Unmöglichkeit der genuinen Übermittlung als auch der niemals unverfälschten Aufnahme es zu Erkenntnissen kommen kann, die zumal dem sehr nahe sind, was gerade nicht geäußert werden sollte. In der Welt der Märchen und Mythen muss erst vom Drachenblut getrunken oder von einer verbotenen Frucht gegessen werden, um zu verstehen, was einer verheimlicht, wenn er etwas besonders betont. Der kommentierende Journalismus kommt ohne Drachenblut und Paradiesapfel aus.

Angela Merkel sagt, sie sei froh, Deutsche zu sein, und sie wird wissen, dass sie durch die Wahl ihrer Worte an die NS-Vergangenheit rührt, die beiden deutschen Teilen gemeinsam ist. Sie will wohl zeigen, wie sie das macht, den heiklen Punkt berühren und dabei scheinbar unbefangen bleiben; ein Fräulein Harmlos aus der ehemaligen DDR.

Die Originalformulierung „stolz darauf, Deutscher zu sein“, kommt aus der Sprache der Nationalsozialisten, zuallererst von dem Österreicher Adolf Hitler. Seitdem war es in Westdeutschland niemandem gelungen, diese Phrase zu entgiften, auch nicht Helmut Kohl durch hartnäckige Wiederholungen.

Angela Merkel vermeidet das Wort „stolz“ gewiss, um sich von dem nationalsozialistischen Zusammenhang abzugrenzen, aber wie jemand, der besonders hervorheben muss, dass er damit eigentlich überhaupt gar nichts zu tun habe. Den Hitler-Staat als tatsächliche wie als erinnerte Vergangenheit gibt es im politischen Bewusstsein vieler Ostdeutscher vorwiegend aus dem Blickwinkel des verfolgten Kommunisten. Alles andere scheint abgespalten und auf Westdeutschland verschoben.

Den Ostdeutschen die DDR-Schuld, den Westdeutschen die Nazi-Schuld. Die Vernichtung des europäischen Judentums durch Deutschland, daran ist in der DDR wenig bis gar nicht gerührt worden. Und leider, so muss gesagt werden, haben die Juden, die das DDR-System mittrugen, dazu geschwiegen. Als 1968 beim Überfall auf Prag durch die UdSSR auch DDR-Soldaten mit einmarschierten, taten sie es in demselben Stechschritt wie ihre Väter 1938 unter Adolf Hitler. Das zu erkennen wurde verweigert. Der Protest in der DDR, sofern er denn stattfand, konzentrierte sich darauf, dass Genossen auf Genossen schossen.

Gerade die Wiedervereinigung mit ihrer genauen Abrechnung gegenüber der deutsch-sozialistischen Vergangenheit hat diesem Selbstbetrug der Ostdeutschen, niemals Täter, sondern stets Opfer gewesen zu sein, emotional neue Nahrung gegeben. Völlig irrational scheint es manchmal, die beiden historischen Epochen hätten zeitlich parallel existiert, wenn Ostdeutsche sich gegenüber Westdeutschen pauschal als Opfer empfinden, quasi als seien sie Opfer eines westdeutschen Nationalsozialismus gewesen oder geworden.

Angela Merkel hat der CDU-Basis auf ihren Regionalkonferenzen eingeredet, sie, die westdeutschen Christdemokraten, hätten jahrelang für die deutsche Einheit gekämpft, während sie selbst, Angela Merkel, auf der anderen Seite gesessen und gehofft habe, gerettet und befreit zu werden. Man glaubte ihr gern und war ganz hingerissen von sich selbst.

Einmal davon abgesehen, dass bei vielen das jahrelange Kämpfen für die Wiedervereinigung mit den Brüdern und Schwestern in der „so genannten DDR“ sich auf die Kerze im vorweihnachtlichen Fenster beschränkte – eine Anregung des Zeitungsverlegers Axel Cäsar Springer, meine ich zu erinnern – bringt nun aber Angela Merkel mit ihrem Pathos die Erfüllung deutscher Erlösungsfantasien in Ost und in West: In diesem Rührstück nämlich sind alle Rollen ausschließlich deutsch besetzt, endlich nicht nur die der Täter, auch die der Befreier, und vor allem die Hauptrolle, das Opfer, ist deutsch, christlich und arisch. Es kann jetzt seine nicht abgeschickten Briefe nach Israel sogar persönlich dort vorbeibringen.

Dem Auftritt von Bundespräsident Johannes Rau im israelischen Parlament und seiner Zusage, den deutsch-israelischen Jugendaustausch noch mehr zu intensivieren, ist es zu verdanken, dass deutsche Schulen für Reisen nach Israel „jetzt ganz dicke Fördermittel“ bekommen. So drückte es eine Schulleiterin aus Rheinland-Pfalz mir gegenüber aus, eine fünfzigjährige westdeutsche Pädagogin, die noch nie in Israel war, im Sommer eine israelische Gruppe Jugendlicher in ihrer Schule erwartet und „im Gegenzug“ im Herbst nach Jerusalem fliegen wird. Auf Staatskosten. Auf meine Kosten. Vielleicht wäre es sinnvoll, die dicken Fördermittel vorrangig ostdeutschen Lehrern und Schulen zukommen zu lassen? Andererseits, womit haben die Juden in Israel das verdient? Westdeutsche sind in der Bildung ihres Selbstbewusstseins gegenüber der nationalsozialistischen Geschichte weiter. Ein Beispiel?

Der Chefplaner der Weltausstellung Expo 2000 in Hannover heißt Albert Speer. Das Hamburger Abendblatt berichtete am 15. Mai unter der Rubrik „Menschlich gesehen“, Albert Speer koche am liebsten italienische Gerichte, „möglichst Nudeln mit frischem Pesto“. Wieso erfahren wir davon erst jetzt? Auf höchster Ebene leistet die Generalsekretärin der Weltausstellung, Birgit Breuel, Integrationsarbeit für die alten Kinder alter Nazis. Es gab bestimmt keinen Besseren für diese gigantische Aufgabe als den 65-jährigen Sohn von Albert Speer senior, dem Lieblingsarchitekten von Adolf Hitler.

Man muss fragen, warum nicht Albert Speer? Was kann der Sohn für die Taten seines Vaters, der 1931 Mitglied der SA wurde und ein Jahr später der NSDAP beitrat, der Hitlers große Massenkundgebungen dramaturgisch organisierte und gestaltete sowie als NS-Rüstungsminister für die deutsche Kriegsmaschinerie tausende von Zwangsarbeitern verschleppen ließ. Zu fragen ist vor allem, warum wir von der Aufgabe seines Sohnes wie zufällig durch eine lokale Tageszeitung erfahren? Geniert sich die Expo-Generalsekretärin der guten Beziehung? Die Information, verbunden mit diesem Namen, beiläufig durchsichern zu lassen, hat etwas Erschreckendes. „Ich hatte keinen Vater“, sagt Albert Speer jun. im Hamburger Abendblatt. Das ist keine Lösung.

Hinweise:Angela Merkel gibt sich als Fräulein Harmlos aus der ehemaligen DDR.Endlich sind alle Rollen deutsch besetzt: Täter, Befreier, Opfer.