Die Ignoranz der Ich-AGs

Ein abenteuerlicher Bericht vom fünften deutschen Trendtag in Hamburg (Teil 2)

Das Verona-Feldbusch-Credo „Hier werden Sie geholfen“ ist out, der Hyper-Trend heißt: Wer auf Hilfe hofft, dem ist nicht zu helfen. Die „Deutschland AG“, die für Renten und andere Almosen gesorgt hat, ist tot, es lebe die Ich-AG: Wir sind nicht mehr Menschen, sondern Unternehmen in eigener Sache. Wir müssen uns selbst organisieren, kreieren, planen, designen, vermarkten, verkaufen, managen. Und branden. Self.Branding heißt, sich selbst ein Markenzeichen einbrennen, sich selbst unverwechselbar, zum Markenartikel und medientauglich machen, wie etwa: Sladdi! Blamier dich vor Millionen, und du bist eine große Nummer! Mach das „Ich zum Voyeur der eigenen Performance“.

Nase putzen im Trend

Voll out ist natürlich alles, was die Ich-AG bremst. Die größte Heiterkeit auf dem Trendtag rief das Wort „Tarifvertrag“ bei den Topmanagern des E-Commerce in der Podiumsdiskussion hervor – wie wenn im Fußball noch jemand vom „Mittelläufer“ spricht, der schon zu Beckenbauers Zeiten als hoffnungslos veraltet abgeschafft wurde – oder wie wenn in den 80er Jahren ein Kabarettist den Namen „Kohl“ ins Publikum warf, wenn er dringend sichere Lacher brauchte.

So sind denn Millionen Ich-AGs rastlos damit beschäftigt, ihren Kurswert zu steigern und andere Ich-AGs aus dem Rennen zu boxen. Gegen Atavismen wie Furcht vor Einsamkeit bot der Trendtag Vorsorge: Eine junge Ich-AG mit roten Haaren verkaufte aus ihrem Bauchladen CDs mit dem Titel „Nie mehr allein“, und zwar „für den, der alles hat, außer einem Lebenspartner, oder dem nichts fehlt, am wenigsten ein Lebenspartner“. Die CD bietet all die Geräusche, die früher ein Ehepartner oder Freund von sich gab: Niesen, Klospülen, Pfeifen unter der Dusche, mit Türen klappern, übern Flur schlurfen, Nase putzen und Nase hochziehen.

Männlichen Ich-AGs, die trotz dieses tröstlichen Werks libidinös motivierte Fusionen mit anderen Ich-AGs planen, gab Trendchecker Stefan Baumann wertvolle Tipps – aus der Studie „Millenniumsfrauen“ für die freundin – die ich hiermit umsonst den Lesern der Wahrheit schenke: Die Frau der Zukunft ist eine moderne Amazone! Sie geht allein ins Restaurant! Ihr Netzverhalten ist effizient! Ihre Wohnung stilbewusst,! Ihr Basismedium das Handy! Willst du bei ihr landen, beachte folgende baumannsche Gebote: „Du sollst nicht vorschreiben. Moderne Amazonen brauchen das Gefühl von Unabhängigkeit. Versuche nicht, sie an etwas zu binden oder einzuschränken. Du sollst Abstand wahren. Moderne Amazonen wollen, dass ihre Grenzen respektiert werden. Werde nicht gleich persönlich. Du sollst souverän sein. Moderne Amazonen erkennen das Verstellte. Sei ehrlich und sei du selbst. Aber sei auch ein gleichstarker Partner. Komme gepflegt daher. Du sollst herausfordern. Moderne Amazonen brauchen ansprechende Aufgaben, um daran zu wachsen. Sie brauchen Vorschläge und Inspirationen, an denen sie sich reiben können.“

Trend zur Amazone

Ob moderne Amazonen Männer verachten, die schlampig mit der deutschen Sprache umgehen, konnte die Studie nicht herausfinden, auch bleibt unklar, ob trendy Baumann sich während der Studie an seinen eigenen Inspirationen gerieben hat. Das wichtigste Gebot aber will ich Ihnen, meine Herrn, nicht vorenthalten: „Du sollst nicht langweilen. Moderne Amazonen wollen Abwechslung, Spannung und Spontaneität. Überrasche sie mit Unerwartetem.“

Fazit: Langweilen ist die Todsünde des Amazonenanbaggerers und fast so schlimm, als würde er nach einem Tarifvertrag bezahlt. Apropos: Ich bin mir nicht ganz sicher, aber bei dem mitleidig-höhnischen Herrengelächter der Topmanager über das Schnarchwort „Tarifvertrag“ schien mir das Gemäuer des Curiohauses bedrohlich zu ächzen. JOACHIM FRISCH