london calling
: Donnerkuppeln: Millennium Dome und Tate Modern

Ohne Scheuerleisten

In der Neujahrsnacht reichten Tony Blair und die Queen einander die Hände und sangen „All you need is love“. Im Millennium Dome. Damit war das Ding, das aussieht wie ein Zuckerhaufen, in den jemand eine Handvoll Zahnstocher gespießt hat, offiziell eröffnet. Draußen in Greenwich verbirgt es unter seiner Kuppel einen aufwendigen Themenpark. Mit Freude und Häme wurde neulich in der Presse ausgebreitet, dass bei 20 Pfund pro Erwachsenenkarte von den fürs Jahr 2000 angepeilten 12 Millionen Besuchern inzwischen erst 2 da waren. Entsprechend leer ist die Kasse, und jetzt braucht's nochmal eine Geldspritze, nachdem bereits 510 Millionen Pfund (!) verschlungen sind.

Klar, das Ganze roch von Anfang an schwer nach blairitischem Verblödungsprogramm. Aber die verdächtige, anhaltende Einmütigkeit in der Kritik weckt auf Dauer den Gegenimpuls. Also doch hingehen, mit dem festen Vorsatz, mindestens ein gutes Haar am Millennium Dome zu lassen, und sei es irgendein positiver Nebeneffekt, der im offiziellen New-Labour-Gute-Laune-Getue gar nicht mal vorgesehen war.

Ich habe mir Mühe gegeben. Alle „Zonen“ habe ich mir angeschaut: die Body-Zone und die Mind-Zone, die Journey- und die Money-Zone, sogar die Work-Zone und selbst das mit Peter Gabriels Soundtrack unterlegte Musical unter der zentralen Kuppel. Einen ganzen Tag war ich da, von morgens um elf bis abends halb sieben.

Und, was soll ich sagen: ein einziges großes, umständliches, vor ausgestellter plumper Dreistigkeit beinahe Mitleid erregendes Desaster. Erschütternd. Nicht einmal der leiseste Kitzel, jede Schießbude in Blackpool ist aufregender. Stattdessen fühlte es sich ungefähr so an, als hätte man den Anschlussflieger verpasst und müsste nun acht Stunden am Flughafen totschlagen, und würde dabei durch Werbeblöcke von Rentenversicherungen und Fluglinien tappen, die zu plärrigen Multimediainstallationen aufgeblasen sind.

Die wahren Zyniker und Klassendünkler sind nicht die Kritiker des Domes, sondern die Macher: Tatsächlich haben sie geglaubt, dass sie dem dummen breiten Volk jeden Scheiß als neues technisch-entertainiges Wunder andrehen könnten, aber die Gesichter (und die Besucherzahlen) sprechen eine andere Sprache: Bis zur Eingangspforte lassen sich die Leute vielleicht irgendeinen Mist verheißen, aber dann schlägt die Stunde der Wahrheit. Und welcher von Arbeitslosigkeit bedrohte Rover-Mechaniker will sich schon von „Manpower“, den Sponsoren der „Arbeits“-Zone, erzählen lassen, dass es in der fordistischen Fabrik wie auf einer kafkaesken Galeere zuging, während man jetzt als flexibilisierter Hamburgerbrater echt befreit Freizeit verbringen kann? Oder welche wohl beleibte Wirtin möchte sich, nachdem sie durch den auch nicht gerade idealfigürlichen Henry-Moore-meets-Nikki-de-Saint-Phalle-Menschen geschleust wurde, von Kate Moss in der „Körper“-Zone erzählen lassen, dass wahre Schönheit von innen kommt?

Bei der Tate Modern waren meine Erwartungen genau umgekehrt. Seit Monaten in der englischen Presse zum triumphalen Großereignis hochgeschrieben – ich hatte mich schon mal innerlich darauf eingestellt, dass ich Mitte Mai durch die Hallen schlendern würde um festzustellen: Da haben sie also mit großem Aufwand ein riesiges altes Kraftwerk umgebaut, um jetzt auf 34.500 qm (davon 8.000 qm Galerienfläche) ein Mausoleum für angestaubte Kunst zu haben. Im Fernsehen kamen die Architekten Herzog & de Meuron als kleinliche Pedanten rüber, die noch einen wochenlangen Verhandlungskrieg heraufbeschwören, weil sie auf keinen Fall Scheuerleisten wollen.

Also hingehen mit dem festen Vorsatz, Herrschaftsarchitektur anzuprangern, die Gentrifizierung von South London sowieso, und die Achtzigerjahre-mäßig aufgeblasene skulpturale Großkotzigkeit in der Turbinenhalle, wo Louise Bourgeois irgendwelche von Unilever gelöhnte rostige Leuchttürme hingewuchtet hat.

Und was soll ich sagen: Das Ding hat was. Es fängt schon an, wenn man auf der breiten, langen, flach abfallenden Rampe in die Turbinenhalle hineingeht: Die BesucherInnen – Eintritt frei – sind nicht die kleinen Strichmännchen am Fuße der industriellen Großkathedrale, sondern bewegen sich oberhalb des tiefsten Punktes, während die Vertikale von einer eingezogenen Zwischenebene gebrochen wird. Die Bourgeois-Türme haben was liebevoll Zusammengeschustertes, und wenn sie vom Waschmittelkonzern Unilever gesponsort sind, ist das ungefähr so, als würden die Anselm-Kiefer-Bleiregale im Hamburger Bahnhof von Persil präsentiert. Ist doch lustig.

Die Sammlung hat ihre Lücken, und Tate-Chef Nikolas Serota hat eine etwas überbetonte Vorliebe für Rebecca Horn. Aber, tatsächlich, Herzog & de Meuron sind im Recht: Das Fehlen der Scheuerleisten macht die Wände luftig, sie schweben beinahe über dem hellen Holzboden, und die Räume sind eindeutig kunstfreundlicher als mit fünfmal gewundenen postmodernen Wandwürsten. Kleinere Räume, größere Räume, höhere Decken, niedrigere Decken, mit oder ohne Aussicht auf die Themse. Alles ist möglich für das Zeigen von Kunst – anstatt nur alles möglich zu machen für das Demonstrieren von Macht. JÖRG HEISER