Schlauchboottour im Wüstensand

Christus kommt im Zeppelin vorbei, doch die Sinnsuche muss trotzdem erfolglos bleiben: In Sebastian Hartmanns fabelhafter Inszenierung von August Strindbergs Improvisationsstück „Traumspiel“ kommt die Volksbühne wieder bei sich selbst an

von NIKOLAUS MERCK

Bin ich ein Mensch, der träumt, er sei ein Schmetterling? Oder ein Schmetterlinge, der träumt, ein Mensch zu sein? Wie schwer es, trotz des verfügbaren rationalen Instrumentariums, immer noch ist, diese letzte Frage zu entscheiden, wird im Programmbüchlein zu August Strindbergs „Traumspiel“ angedeutet. Aber das ist nur Wahrheitsgeplänkel an der Seitenlinie. Regisseur Sebastian Hartmann räumt Möglichkeiten ein.

Agnes (Cordelia Wege), die perückenblonde Tochter des altindischen Obergottes Indra, trägt deshalb Schmetterlingsflügel zum transparenten Ganzkörperstrumpf, wenn sie auf die Erde herniedersteigt, um das Leid der Menschen kennen zu lernen. Sie landet auch gleich am rechten Ort. Auf dem Dach der Volksbühne OST, das samt Pilasterfassade aus dem Bühnenboden fährt. Hier ist das Leid gewohnheitsmäßig ziemlich groß. Entsprechend gebärdet sich das Personal. Es steht und starrt, bricht verlässlich in gequältes Geschrei oder heftiges Gliederreißen aus. „Viktoria!“, heult der Offizier (Guido Lambrecht) nach einer unsichtbaren Liebe und bestreitet mit seinem entzückenden Kleinmädchenblüschen (Kostüme: Nina von Mechow) die Abteilung komische Verzweiflung fast im Alleingang.

Als „ein Gemisch von Erinnerungen, Erlebnissen, freien Erfindungen, Ungereimtheiten und Improvisationen“ bezeichnete Strindberg sein 1901 veröffentlichtes Stück. Ein Stoff, aus dem die Volksbühne umstandslos ihr Unterhaltungskunstgold schürfen kann. Wo andere das Theater mit unmöglichen Gewaltdarstellungen belasten, um dem Elend des Daseins auf der Bühne Eindrücklichkeit abzugewinnen, findet Hartmann Bilder. Der Mann ist ein Botschafts-Regisseur, das war in den umjubelten „Gespenstern“, seiner ersten Volksbühnenarbeit, vielfach übersehen worden. Diesmal vermeidet er Missverständnisse. Der Bühnenhorizont ist schwarz. Die Aussichten sind düster. Insbesondere für die Liebe als Versöhnung stiftende Himmelsmacht, an die bloß die dumme Agnes glaubt. Nicht so der Spielleiter, der die Liebesszenen durch den Fleischwolf ortsüblicher Alberei und abgründiger Traurigkeit dreht. Während der Advokat (René Peter Lüdicke) als Schäferhundvereinsvorsitzender Ortsgruppe Reinickendorf Nordost Agnes das Glück der Ehe austreibt, geben Gerd Preusche – bauchstark in Handwerkerweste und Badehose – und Karin Ugowski im Hochzeitskleid als ältliches Brautpaar stille Verzweiflung pur.

Obschon der Originaltext nur in Auszügen zitiert und die Figuren munter durcheinander gewirbelt werden, ist die Inszenierung hier ganz dicht beim Ehehasser Strindberg. Die Außerirdischen allerdings, die Hartmann an der „Schönen Bucht“ landen lässt, sind seine Erfindung. Die Aliens ausgerechnet von der Truppe des Behindertentheaters RambaZamba darstellen zu lassen, gehört zu den fragwürdigen Zutaten der Marke Holzhammer. Sei’s drum, die Botschaft: „Was ist das für eine Welt, in der ein Verrückter euch Gesunden sagen muss, dass ihr euch schämen müsst“, ist deshalb nicht minder wahr.

Zu großer Form läuft Hartmann, aber mehr noch Bühnenbildner Jürgen Bäckmann in der zweiten Stunde auf. Da leuchtet eine golden-mediterrane Mondlandschaft auf der Drehbühne. Und der Abend strandet vorübergehend bei Büchner. Oder Camus. „Es gibt keine Spuren, wo sind meine Spuren?“ Verzweifelt rennen die Badegäste durch den Kies. Auf Sinnsuche schippert der „von allen beneidete“, blinde, reiche Mann in einem Schlauchboot durch diese Wüste, während der ärmere Teil der Gesellschaft in einem alten Ford vorfährt. Aber weder im Schwimmbassin, im Kofferraum noch im profanen Tempel einer Autowaschanlage findet sich Antwort auf die Frage, ob die von metaphysischer Existenznot und realem Elend geplagten Menschen vielleicht doch „nur ein Phantom, nur ein Wachtraum“ sind.

Zwar segelt hoch über der Verzweiflung Christus (Michael Klobe) als kleiner, blinkender Zeppelin vorüber, doch trotz dieser Verheißung knarzt Göttervater Otto Sander aus dem Off ungnädig über die Menschenklage vor seinem Thron. Zuletzt fragt Agnes: „Ist denn niemand auf den Gedanken gekommen, dass es so sein soll, wie es ist?“, dann schaut sie noch einmal grimmig wie ein tollpatschiges Tigerjunges, und auf die Frage, warum die Menschen so schlecht leben, hat das Theater wieder keine Antwort gefunden. Die ewige Suche allerdings hat Sebastian Hartmann fabelhaft inszeniert.