MODERNES LESEN: NEUE BÜCHER KURZ BESPROCHEN VON VOLKER WEIDERMANN
Ich auch

Christian Kracht: „Der gelbe Bleistift“. KiWi, Köln 2000. 196 Seiten. 16,90 DM

So, der Kracht. Was weiß ich denn so über den?

Wir fuhren mal gemeinsam Interregio, von Hamburg nach Frankfurt. Saßen im Bordrestaurant. Tranken Bier. Und noch eins. Und ein weiteres. Wir sprachen über Indonesien und dass Herr Kracht da eine Reportagereise hingemacht hätte und es sei sehr interessant gewesen und dort trinkt man Bintang-Bier und man isst so Omelettes, in die sind halluzinogene Pilze eingebacken.

Herr Kracht ist ein kleiner, sehr angenehmer junger Mann, der gerne über Rudolf Scharping spricht und gerne Strickwesten trägt. Wir haben dann Kniffel gespielt. Und wir haben uns gestritten, ob wir in Zweierkolonnen anschreiben sollen oder immer einzeln. Wir konnten uns leider nicht einigen. Und da haben wir dann noch etwas Bier getrunken. Und Christian Kracht fuhr auf einen Rave in einem Flugzeughangar in Frankfurt. Und weil wir uns so gut verstanden haben, fragte er mich, ob ich ihn nicht begleiten wolle. Das habe ich dann aber nicht gemacht.

Ich habe ihn dann später noch oft auf Fotos gesehen. Am liebsten mag ich das Bild von ihm, auf dem er in so einen Granny-Smith-Apfel beißt. Das sieht sehr schön aus und könnte auch eine alte blend-a-med-Werbung sein. Und Christian Kracht sieht so gesund aus und so frisch. Das andere Foto, auf dem er mit Benjamin von Stuckrad-Barre auf dem Werbeplakat für Peek und Cloppenburg drauf ist, das mag ich nicht so gerne. Er wirkt da so angespannt und großmäulig. Ich finde, das passt gar nicht so gut zu ihm. Auf dem neuen Buch, das heißt „Der Gelbe Bleistift“, und es handelt von Christian Kracht, der viel in Asien unterwegs ist, aber das spielt nicht so eine große Rolle, da ist ein sehr kleines Bild darauf. Und Christian Kracht ist darauf, fein gekleidet. Er sitzt auf einem weichen Teppich und spielt eine Sitar. Das sieht sehr schön aus, finde ich.

Männerhüte

Sempé: „Traumtänzer“. Diogenes, Zürich 1999. 102 Seiten. 49,80 DM

Sempé zeichnet Bürger. Sempé zeichnet Langweiler. Sempé zeichnet harmlose Lebenszeit-Herumbringer, die einander recht ähnlich sehen. Männer tragen Männerhüte, rund, mit Krempe und normschön gedellt, mittelalte Frauen sind dick und tragen Rüschenkleider, junge Frauen sind spindeldürr und haben einen Pferdeschwanz, Hunde, die immer an Männer-Leinen hängen, haben lange, dünne Nasen und Kinder sind immer wild beschäftigt und haben riesige Köpfe mit großen, dicken Nasen. Das ist so das Sempé-Personal.

Die könnten nun alle so in seinem Buch herumlaufen, einander herzlich wenig zu sagen haben, sich langweilen und am Ende des Buches sich irgendwo anders hin zeichnen lassen. Sie passen überall hinein. Sie sind die Normalität. Die Unauffälligkeit. Doch Sempé macht sie auffällig. Sempé weiß etwas über sie, was sonst fast keiner weiß. Er kennt Geheimnisse von ihnen, die in groteskem Widerspruch zu ihrem Aussehen stehen, und er entdeckt sein Personal in Situationen, in denen sie kein anderer kennt. Man hat den Eindruck, Sempé verfolge seine Figuren, ein Leben lang, nur um sie in dem einen großen Moment ihres Lebens oder dem einen Lebensmoment zu zeichnen, in dem sie sich ganz offenbaren.

Es gibt da ein Bild zum Beispiel: Sempé hat hier mit großer Akribie und Detailverliebtheit einen Opernsaal gezeichnet. Vielleicht 1.000 Zuschauer, 100 Musiker im Orchestergraben. Ein Klarinettist winkt. Er hat seine Frau und seine Kinder für den Abend in einer Loge untergebracht. Gleich ist er dran. Er winkt und strahlt. Seine Familie ist aufgeregt. Er ist stolz wie nie. Man blickt auf das Bild und weiß: Niemandem im Saal würde es auffallen, wenn diese Klarinette ihren Einsatz verpasste. Sie spielt fast keine Rolle. Aber er winkt. Und seine Familie wird gleich nur den wunderbaren Klang der Vaterklarinette aus dem allgemeinen Klingklang heraushören. Und am Ende wird es einen rauschenden Applaus geben und vier Menschen im Saal werden wissen: Der ist nur für die bravourös aufspielende Klarinette und sonst für niemanden.

Sempé liebt die Menschen, die er zeichnet. Vielleicht ist das schon das ganze Geheimnis.

Das Bötchen

Lothar-Günther Buchheim: „Tage und Nächte steigen aus dem Strom“. Langen – Müller, München 2000. 344 Seiten. 39,90 DM

Das passiert einem Schriftsteller sonst eigentlich erst nach dem Tod: Nachlassfledderei, die Veröffentlichung peinlicher Frühwerke, die der Verfasser zu Lebzeiten zu Recht verdrängte.

Man könnte meinen, bei „Tage und Nächte steigen aus dem Strom“ läge ein besonders gravierender Fall von Erbmassenüberschätzung vor. Aber nein. Der Buchheim lebt ja noch. Hat zwar soeben mit dem 1.000-Seiten-Epos „Der Abschied“, das im Herbst auf den Markt kommen soll, seinen Schwanengesang abgeschlossen. Aber noch lebt er. Und wollte die Neuauflage seines Erstlingsromans „Tage und Nächte steigen aus dem Strom“ offenbar nicht verhindern. Denn „dem Buchheim“, wie er sich selber nennt, ist nichts peinlich. Nicht einmal das:

Der Reisebericht seiner Donaufahrt im Sommer 1938, die ihn von einem Dorf bei Ingolstadt bis ans Schwarze Meer führte, strotzt nicht nur von sumpfigem Metaphernmorast („das Land liegt im Drang seiner schwellenden Säfte“, „Dieser Tag ist wie ein Fettauge auf dem Weltstrom“) und schlechten Zeichnungen, die er mit Uferschilf-Rohrfedern („wie sie schon van Gogh verwendete“) auf der Reise anfertigte. Es bietet vor allem eine ausgiebige Sammlung frühen buchheimschen Nationalismus und Rassismus: In jedem Reiseland macht sich der junge Reisende zunächst einmal auf, die deutschen Minderheiten aufzusuchen, selten ohne den Hinweis, dass diese hier schon seit dem 13. Jahrhundert siedeln und das Land ordentlich und den Boden fruchtbar machten. Über Ungarn, die kein Deutsch sprechen, wird gespottet und vor „der großen Gefahr der Magyarisierung“ gewarnt. Zigeuner sind kleptomanisch, Jugoslawen schlecht rasiert. Wir lesen von der „Mystik des Raumes“ und von Buchheims völkischen Theorien: „Der deutsche Heideboden hängt auf der ganzen breiten Flanke mit dem deutschen Volksboden der Ostmark zusammen und gehörte schon unter Karl dem Großen zur Ostmark des Reiches.“ Während der Nazizeit erreichte das 1941 erstmals veröffentlichte Buch übrigens drei Auflagen. Danach wäre es beinahe in Vergessenheit geraten.

Endlich

Leo Perutz: „Nachts unter der steinernen Brücke“. Zsolnay, Wien 2000. 294 Seiten. 39,80 DM

Zu jüdisch. Das war das Urteil des Zsolnay-Verlages, als Leo Perutz sein Romanmanuskript, an dem er, mit wenigen Unterbrechungen, 26 Jahre gearbeitet hatte, 1951 einsandte. Die deutsche Seele habe sich Werken jüdischen Geistesguts noch nicht wieder geöffnet, hieß es. Das Buch erschien zwei Jahre später bei der Frankfurter Verlagsanstalt. Von Kritikern gefeiert, von Lesern gemieden. Leo Perutz sagte, er werde behandelt, als sei er nicht mehr vorhanden und nie vorhanden gewesen. Aber „umso sicherer ist meine Auferstehung in 40 Jahren“.

So richtig auferstanden ist er bis heute nicht. Trotz einer kleinen Renaissance, die er, auch dank des sich besinnenden Zsolnay Verlages, in den 80er-Jahren erfuhr. Und trotz Lob und Preis von Alfred Hitchcock, Ian Fleming, Adorno und Tucholsky. Aber jetzt ist es endgültig Zeit für Perutz. Zsolnay beginnt eine komplette Neuedition der Werke Leo Perutz’ und den Anfang macht sein schönstes Buch, das der Verlag damals so schnöde verschmähte: „Nachts unter der steinernen Brücke“ ist ein wunderbarer Roman in 14 Novellen aus dem Prag des 16. Jahrhunderts, zwischen Gettowelt und dem Hof Rudolfs II., zwischen Pogrombedrohung und der Liebe des Kaisers zur Jüdin Esther, zwischen Gottsuchern und Wahrsagern. Mit diesem Roman muss Perutz endlich auferstehen.