„Die Hymnen untersagen“

Gespräch mit Verfassungsrichter Udo Steiner über die Berufsfreiheit von Dopingverdächtigen,den Umgang mit „Doping-Attentätern“ und die Option auf fahnenlose Sportwettbewerbe

Interview: CHRISTIAN RATH

taz: Herr Steiner, neulich haben Sie geklagt, der deutsche Sport sei für die Ethik zuständig und die anderen Nationen für den sportlichen Erfolg. Plädieren Sie damit etwa für eine vorsichtigere deutsche Gangart in der Dopingbekämpfung?

Udo Steiner: Überhaupt nicht. Wenn in anderen Staaten der Kampf gegen Doping nicht so ernst genommen wird wie bei uns, dann ist das zwar für unsere Sportler sehr ärgerlich, darf aber keinerlei Auswirkungen auf die Praxis in Deutschland haben. Allerdings stehen unsere Sportfunktionäre und Politiker in der Pflicht, sich für eine weltweite Anhebung der Kontrollstandards einzusetzen.

Also volle Kraft voraus beim Kampf gegen das Doping?

Vorsicht. Man darf dabei natürlich nicht vergessen, dass hier Grundrechte der Sportler berührt sind. Hochleistungsathleten üben ihren Sport heute überwiegend berufsmäßig aus und sind daher vom Grundrecht auf Berufsfreiheit geschützt. Das erfordert, dass sich Dopingverfahren streng an rechtsstaatlichen Maßstäben orientieren müssen.

Automatische Sperren für ertappte Sportler schließen Sie aus?

Richtig. Sperren können nur verhängt werden, wenn der Sportler schuldhaft, das heißt vorsätzlich oder fahrlässig gehandelt hat. Daran haben sich bisher auch die Gerichte der deutschen Sportverbände gehalten.

Von einem Berufssportler kann man erwarten, dass er weiß, was er zu sich nimmt, und dass er nicht die Verantwortung auf Betreuer und Ärzte abschiebt. Ist bei einem positiven Dopingbefund also nicht fast immer Fahrlässigkeit gegeben?

Natürlich muss ein Sportler auch seinem Arzt auf die Finger sehen. Aber wenn ein langjähriges Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Sportler besteht und der Arzt ein Mittel für unbedenklich erklärt, dann sollte sich ein Sportler darauf verlassen dürfen. Wir können von Sportlern nicht verlangen, dass sie nebenbei Pharmazie studieren.

Im Anti-Doping-Kodex des IOC sind alle Hilfsmittel verboten, die potenziell gesundheitsschädigend und/oder leistungssteigernd wirken. Ist eine solche Generalklausel sinnvoll?

Nein, auch das ist ein rechtsstaatliches Problem. Ärzte, Betreuer und Sportler müssen genau wissen, was verboten und was erlaubt ist. Es muss daher transparente Listen mit verbotenen Substanzen und Methoden geben. Nur aufgrund der Generalklausel des Anti-Doping-Kodex dürfte in Deutschland kein Sportler gesperrt werden.

Andere Staaten sind da nicht so zimperlich. Haben die deutschen Athleten da nicht einen Wettbewerbsvorteil, wenn sie neue Dopingsubstanzen gefahrlos nutzen können, bis sie offiziell verboten werden?

Das ist ein Scheinproblem. Wenn eine neue dopinggeeignete Substanz auftaucht, dann muss es darüber in der Regel eine wissenschaftliche Diskussion geben. Es müssen Nachweismethoden festgelegt werden, und bei körpereigenen Substanzen müssen Grenzwerte bestimmt werden. Kein Verbandsgericht auf der Welt könnte ohne rechtliches Risiko sofort eine Sperre verhängen und sich dabei auf die IOC-Generalklausel stützen.

Dritte rechtsstaatliche Klippe: Wie sieht es mit der Beweislast aus? Häufig sagen beschuldigte Sportler ja, da hat mir ein Fremder was ins Müsli getan – was für den Verband nur schwer zu widerlegen ist. Wenn aber umgekehrt der Sportler seine Unschuld beweisen soll, und es gab wirklich ein „Doping-Attentat“, so wird ihm das kaum gelingen.

Die Umkehr der Beweislast gibt es nicht nur im Sport, insofern halte ich sie auch dort für akzeptabel. Anzuwenden ist hier die so genannte „Sphärentheorie“, die demjenigen die Beweislast aufbürdet, der sich auf Vorgänge beruft, die in der eigenen Sphäre geschahen, einer Sphäre also, die er viel besser kennt und beherrscht als die Gegenseite.

Den „unbekannten Attentäter“ kennt und beherrscht der Sportler doch gerade nicht, also kann er auch nicht beweisen, dass es ihn gibt.

Wenn die Sphärentheorie den Gerichten zu hart erscheint, könnten sie auch die Lehre vom Anscheinsbeweis anwenden. Danach ist im Fall einer positiven Dopingprobe anzunehmen, dass der Sportler sich gedopt hat – es sei denn, er kann diesen Anschein zerstören, indem er Indizien vorbringt, dass hier ein atypischer Fall vorlag.

Wie könnten solche Indizien aussehen?

Wenn es zum Beispiel einen Einbruch in die Umkleidekabine eines Sportlers gegeben hat, bei dem nichts gestohlen wurde, dann könnte dadurch der erste Anschein zerstört werden. Aber dabei kommt es natürlich immer auf die Besonderheiten des Einzelfalles an, man darf das nicht zu schematisch sehen.

Innenminister Schily ist mit dem Kampf der Sportverbände gegen das Doping nicht ganz zufrieden und prüft, ob ein Anti-Doping-Gesetz erforderlich ist.

Das halte ich für ein politisch und verfassungsrechtlich problematisches Vorhaben. Der Staat hat kein Mandat, die Fairness im Sport durchzusetzen, er würde dabei unzulässig in die Autonomie der Sportverbände eingreifen.

Aber der Staat finanziert doch den Spitzensport zu weiten Teilen, da wird er sich ja auch etwas einmischen dürfen . . .

Natürlich. Er könnte zum Beispiel die Förderung entziehen. Ich halte es für durchaus legitim, dass der Staat so sein Interesse an einem sauberen Sport durchsetzt. Immerhin gelingt die Identifikation mit dem eigenen Staat in kaum einem Bereich so leicht wie im Sport – wenn deutsche Sportler unter der deutschen Fahne und mit der deutschen Hymne ins Stadion einmarschieren. Und wenn sie dann Medaillen und Titel gewinnen, ist das eine der wenigen Gelegenheiten zu gemeinsamer Freude.

Pointiert gesagt: Im Sport ist der Staat am schönsten. Sind die Sportler dabei aber gedopt, färbt das negativ auch auf das Ansehen des Staates ab.

Aber der national gestimmte Zuschauer im Fernsehsessel sieht ja nicht, ob der Staat nun gerade Zuschüsse gibt oder nicht. Er sieht nur die Fahne, hört die Hymne . . .

Das könnte im Extremfall ja untersagt werden.

Untersagt?

Ja, wenn ein nationaler Sportverband dauerhaft nichts gegen Doping unternimmt, dann könnte der Staat ihm verbieten, seine Symbole zu benutzen. Tut er es trotzdem, wäre das eine Ordnungswidrigkeit.

Zimperlich sind Sie ja nicht gerade. Warum dann so viel Skepsis gegenüber einem Anti-Doping-Gesetz?

Wenn es um Steuergelder und Flaggen geht, sind wir in der Sphäre des Staates. Wenn es aber um die Fairness im Wettkampf geht, ist die Selbstorganisation des Sports betroffen, aus der sich der Staat heraushalten sollte.