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POLENS REGIERUNGSKRISE TRIFFT GANZ BESONDERS DIE SOLIDARNOŚĆNeuralgische Phase

Oberflächlich kann man in der derzeitigen Regierungskrise in Polen nur eine Kurzschlussreaktion in der Koalition zweier „Solidarność“-Parteien sehen. Tiefenschichtig geht es darin aber um einen „Kulturkampf“, in dem sich zehn Jahre nach der Wende die ganze polnische Gesellschaft befindet.

Die Initialzündung gab ein operettenhafter Streit um den Stadtrat der reichsten Gemeinde Polens. Warschaus rechtsgerichtete Wahlaktion „Solidarność“ (AWS) konnte seit Wochen nicht ertragen, dass ihr kleiner Koalitionspartner, die liberale Union der Freiheit (UW), sie auf lokaler Ebene sitzen ließ und eine Allianz mit den Postkommunisten von der SLD eingegangen war. Das Problem der AWS-Politiker ist, dass sie in der Öffentlichkeit oft als unerfahrene Verwalter, aber kecke Postenjäger wahrgenommen werden. Die Krise löste zwar die AWS aus, aber gesteuert wird sie von der UW. Sie ist es, die das Tempo diktiert, sie stellt Bedingungen, sie hat auch die Trümpfe in der Hand, ihre Minister sind der Inbegriff der „Europäisierung“ Polens nach 1989. Ihr Rückzug aus der Regierung wäre ein Schock und hätte fatale Folgen für Polen in der neuralgischen Phase der Beitrittsverhandlungen.

Heute sieht es danach aus, dass die UW pokert. Sie will den schwerfälligen und misstrauischen Partner „erziehen“ und „disziplinieren“. Die Rechnung kann kurzfristig aufgehen. Die AWS könnte zwar risikieren, sich mit einer Minderheitsregierung bis zum Frühling 2001 hinüberzuretten, doch sie wäre nicht fähig, relevante Punkte für die nächsten Parlamentswahlen zu sammeln. Doch mittel- und langfristig sind beide Parteien der einstigen „Solidarność“ in einer Zwickmühle. Die UW kann trotz ihrer Trümpfe ihr Wählerpotenzial nicht stärken. Die AWS dagegen starrt gebannt nicht nur auf den Vertrauensschwund bei den Wählern, sondern auch auf die rasante zivilisatorische Beschleunigung in Polen, die vieles der traditionellen Vorstellungen in Frage stellt.

Die jetzige Regierungskrise wird wahrscheinlich in einer Woche gebannt sein. Die UW wird wohl ihr Ziel erreichen und an die Regierung zurückkehren. Doch langfirstig, sagen besorgte Beobachter in Warschau, können die beiden Kontrahenten verlieren. Die „Solidarność“ könnte für lange Zeit auf der politischen Bühne Polens an den Rand gedrängt werden. Den Postkommunisten ist diese Entwicklung gar nicht so ganz geheuer, denn auch sie sind bei weitem noch nicht bereit, zurück an die Regierung zu kommen. Kein gutes Zeichen für die Zukunft in einem entscheidenden Moment der polnischen Geschichte. ADAM KRZEMIŃSKI

Der Autor ist Redakteur der Wochenzeitung Polityka

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