Polieren statt Kratzen

Das Berliner Ensemble Zeitkratzer glättet die Wogen der Geschichte. Die Musik stellt keine Fragen, gibt keine Antworten und entgleitet dem Hörer, während sie verklingt

Zeitpolierer wäre wohl der bessere Name gewesen. Denn das Projektensemble Zeitkratzer beschädigt die rauhe, unebene Oberfläche der Zeit nicht. Es glättet sie. Mit einer gewissen Sterilität und mit glänzender Selbstverständlichkeit tragen Zeitkratzer ihr Repertoire vor, das zwischen Improvisation und Komposition, zwischen dem musikalischen Experiment der 60er-Jahre und der klingenden Formlosigkeit der Gegenwart angesiedelt ist. Der Dress der Musiker ist elegant und unverfänglich. Dass dem Ensemble keine weiblichen Mitglieder angehören, wird man kaum erwähnen müssen: die Inszenierung musikalischen Fortschritts ist noch immer Männersache gewesen.

Im ersten von drei Konzerten verknüpfte man am Montagabend die losen Enden des ästhetischen Konzepts zu einem bündigen Programm: Uraufführungen neuer Werke von Carsten Nicolai und Helmut Oehring sowie ein Performance-Stück von John White. Whites „Drinking and Hooting Machine“, zwischen 1967 und 1972 entstanden, atmet den verführerischen Geist des Fluxus. Neun Menschen trinken aus und blasen auf Wasserflaschen. Im Verlauf des Stücks werden diese leerer, die Töne tiefer. Zeitkratzer inszenieren den Prozess stimmig.

Der Berliner Komponist Oehring ist als hörender Sohn gehörloser Eltern aufgewachsen und hatte die Welt der neuen Musik zu Beginn der 90er mit unruhigen Partituren im Handstreich für sich vereinnahmt. Doch nun kam „SchwarzTief“ mit seinen statischen Akkordblöcken und zeitverzerrten Sprachsamples nicht recht aus dem Quark.

Carsten Nicolai, mit Künstlernamen auch noto, stößt mit „c 1, c 2“ noch weiter zur Ereignislosigkeit vor. Ein dichter, warmer und weicher Klang drängt über eine halbe Stunde lang in die letzten Ecken des Saales. Die Bewegungsarmut der Musik und der Musiker kommt einer Live-Installation gleich. Es sind vor allem derart aktionskarge Stücke, mit denen sich Zeitkratzer einen Namen gemacht haben. Das sterile Ambiente dieser Musik ist der zentrale Aspekt einer Ästhetik, in der sich die Schranken zwischen neuer Musik und Jazz, zwischen elektronischer E-Musik und Techno öffnen.

Das ist einerseits eine große Leistung, indem es endlich gelingt, neue Hörerfahrungen über musikalische Grenzen hinweg einzuklagen. Es ist aber auch ein Defizit, denn ein Mangel an Kontur ist fast zwangsläufig die Folge. Zeitkratzer verfügen über einen sensationellen Sound, den man auch geschliffen und poliert nennen kann und der die Differenzen zwischen verschiedenen Ansätzen auf Kosten eines musikalischen Profils glättet. Zeitkratzer setzen ihr Programm fort: am 5. Juni mit Musik des Niederländers Antoine Beuger und La Monte Young, am 14. Juni mit Terre Thaemlitz (Milles Plateaux), Das synthetische Mischgewebe und Coloumn One.

BJÖRN GOTTSTEIN