: Lücken im Raketenschild
Das geplante US-Abwehrsystem ist nicht nur teuer, technische Probleme lassen auch Zweifel aufkommen, ob es überhaupt funktioniert. Bisher gab es fast nur Fehlschläge bei den Tests und wichtige Komponenten müssen noch entwickelt werden
von KENO VERSECK
Um 18.19 Uhr Ortszeit hebt die feindliche Interkontinentalrakete vom Stützpunkt ab. Sie nimmt Kurs auf ihr 7.000 Kilometer entferntes Ziel, das sie binnen Stundenfrist erreicht haben soll. Das Frühwarnsystem der Angegriffenen schlägt Alarm. Zwanzig Minuten nach dem Start des Feindobjekts wird die Abfangrakete gezündet. Mit vier Kilometern pro Sekunde rast sie auf den gegnerischen Flugkörper zu.
Den Zusammenprall haben die Computer in 200 Kilometer Höhe über dem Meeresspiegel berechnet – genau 29 Minuten und 49 Sekunden nach dem Start der Feindrakete. Sechs Sekunden vor dem geplanten Crash verschwindet die Abfangrakete plötzlich von den Bildschirmen der Kommandozentrale. Ein Lichtblitz, der den Zusammenprall anzeigen würde, ist zum Zeitpunkt Null am Himmel nicht zu sehen. Später erklärt einer der Militärs: „Es ist so ähnlich wie ein Haus in irgendeinem Land zu finden. Die Satellitensensoren lokalisieren den Kreis, das Frühwarnradar gibt die Postleitzahl an, das Radar in der Abwehrrakete ermittelt Straße und Hausnummer. Leider haben wir es nicht geschafft, an der Haustür zu klingeln.“
18. Januar 2000: Der bislang wichtigste Test der US-Armee für das „National-Missile-Defense“-Programm (NMD), den Abwehrschild für ballistische Interkontinentalraketen, ist gescheitert. Das Abfanggeschoss, eine Trägerrakete mit dem aufmontierten „Exoatmospheric Kill Vehicle“ (EKV), abgefeuert von der US-Militärbasis auf dem Kwajalein-Atoll im Südpazifik, konnte das Sprengkopfmodell einer Minuteman-Rakete, die zuvor vom Vandenberg-Luftwaffenstützpunkt in Kalifornien gestartet war, nicht zerstören. Anfang Februar heißt es dazu aus dem Pentagon: Eine Kühlleitung im EKV, die flüssigen Stickstoff transportiert, sei geplatzt und habe das Sensorsystem zur Erkennung der feindlichen Rakete lahmgelegt. Dies sei jedoch ein mechanisches Problem und stelle die NMD-Technologie keinesfalls in Frage.
Wirklich geklärt sind die Ursachen für das Scheitern des Tests bislang jedoch nicht. Dass eine lecke Kühlleitung am Fehlschlag vom 18. Januar schuld gewesen sein soll, haben Pentagon-Experten nur indirekt aus Telemetriedaten des Tests abgeleitet: Der Stickstoffstrahl aus der lecken Leitung soll eine geringe Antriebswirkung entfaltet und so eine verstärkte Rotation des EKV ausgelöst haben.
Nicht nur wegen solcher Pannen ist die Kritik an der NMD-Technologie lauter geworden. Während das Pentagon von einer bis zu 95-prozentigen Trefferrate des Waffensystems ausgeht, ist NMD nach Ansicht vieler Experten völlig unausgereift. US-Wissenschaftler und -Ingenieure haben das Pentagon in den vergangenen Monaten mehrfach beschuldigt, NMD-Testdaten manipuliert oder sogar gefälscht zu haben, um Projekterfolge vorzeigen zu können.
Die Idee des Anti-Raketen-Schilds ist vergleichbar mit dem Vorhaben, eine „Gewehrkugel im Flug mit einer Gewehrkugel zu treffen“, meint der US-Waffentechnologe und NMD-Kritiker Richard Garwin. Freilich geht es bei NMD um weitaus höhere Geschwindigkeiten, nämlich um bis zu zehn Kilometer pro Sekunde, auf die eine Interkontinentalrakete beschleunigen kann.
Ihr Sprengkopf wird vor seinem Wiedereintritt in die Erdatmosphäre zerstört, und zwar nicht durch konventionellen Sprengstoff oder durch Laserstrahlen, sondern durch einen „Hit to kill“, wie es im Militärjargon heißt, einen schlichten physischen Zusammenprall mit dem Abfangflugkörper.
Das NMD-Waffensystem ist aus zahlreichen Einzelelementen zusammengesetzt, darunter boden- und weltraumgestützte Radar- und Satellitenwarnsysteme, die Daten über anfliegende Interkontinentalraketen ermitteln. Herzstück des Systems stellt der „Ground Based Interceptor“ (GBI) dar, der eigentliche Abfangflugkörper, bestehend aus einer Trägerrakete und dem Exoatmospheric Kill Vehicle. Das 1,4 Meter lange, 54 Kilogramm schwere und mit optischen und Infrarotsensoren ausgerüstete EKV wird zweieinhalb Minuten nach dem Start über der Erdatmosphäre von der Trägerrakete freigesetzt. Danach hat es etwa sechs Minuten Zeit, um sich mit Hilfe von Radar-, Satelliten- und eigenen Sensordaten ins Ziel zu manövrieren.
Die ersten Überlegungen zu einem solchen Raketenabwehrschild kamen bei US-Militärs bereits auf, nachdem sich das Star-Wars-Projekt SDI aus den Achtzigerjahren als technologisch nicht machbar erwiesen hatte. Das National-Missile-Defense-Programm ist jedoch nicht nur eine stark vereinfachte und boden- statt weltraumgestützte Variante von SDI. Im Unterschied zu SDI erhebt NMD auch nicht den Anspruch, die USA vor massiven Angriffen mit Interkontinentalraketen zu schützen. Abgewehrt werden sollen mit dem NDM-Waffensystem lediglich „kleine Angriffe“ von so genannten „Schurkenstaaten“, wie es in CIA- und Pentagon-Begründungen für NMD heißt.
Um sämtliche 50 US-Bundesstaaten vor einem Angriff abzuschirmen, sollen ab 2007 wahlweise in den US-Bundesstaaten Alaska oder North Dakota 100 Abfangraketen stationiert werden. Weitere 150 sollen dann möglicherweise ab 2015 folgen.
Experten zweifeln freilich daran, das NMD in der Lage sein wird, Schutz vor Miniangriffen aus „Schurkenstaaten“ zu bieten. „Dieses System ist bisher nicht unter Bedingungen getestet worden, die auch nur entfernt einem Ernstfall gleichen“, kritisiert der US-Atomphysiker Stephen Schwartz. In dem von ihm herausgegebenen „Bulletin of the Atomic Scientists“ warnten Wissenschaftler kürzlich davor, dass der Raketenschild durch Radarstrahlen schluckendes Material auf Sprengköpfen, Sprengkopfattrappen oder andere technologische Tricks getäuscht werden könne.
Der Physiker Kurt Gottfried von der „Union of Concerned Scientists“ wiederum bringt in einer Studie von Ende April einen noch grundsätzlicheren Einwand vor: Im Fall von biologischen oder chemischen Angriffen mit Interkontinentalraketen sei nicht mit einem einzigen Sprengkopf zu rechnen, sondern mit vielen kleinen, flächendeckenden Bomben, gegen die ein Abfanggeschoss nichts ausrichten könne.
Doch nicht nur die realen Schutzaussichten des NMD-Systems sind mager. Auch die bisherige Testbilanz fällt schlecht aus: Erst zwei von 19 Abfangtests haben stattgefunden. Vor dem gescheiterten Test vom 18. Januar führte das Pentagon am 2. Oktober vergangenen Jahres zwar einen erfolgreichen Crash-Test durch. Die Bahn des Abfanggeschosses wurde dabei jedoch durch Positionierungsangaben von außen programmiert, der Testsprengkopf selbst war elektronisch markiert.
Nach dem Misserfolg vom Januar verschob das Pentagon einen für April geplanten dritten Test auf Ende Juni und kürzlich noch einmal auf Juli, wegen „geringer technischer Probleme“, wie es hieß. Auf einen Test unter vollständigen Ernstfallbedingungen, bei dem beispielsweise Täuschungsmanöver simuliert werden, hat das Pentagon ganz verzichtet. Zudem sind noch lange nicht alle NMD-Elemente test- geschweige denn einsatzbereit. So wird die eigentliche Trägerrakete für das Exoatmospheric Kill Vehicle erst noch entwickelt, und vom Satelliten- und Radarfrühwarnsystem fehlen die meisten Teile. Unter anderem müssten insgesamt 24 Satelliten mit Infrarotsensoren in niedrige Erdumlaufbahnen gebracht werden, damit das Frühwarnsystem funktioniert.
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