Moderne Conquistadoren

■ Bremerin Ulrike Westermann zeigt erstmals Film über blindes Ehepaar

Wenn die Leute ihn sehen, wie er sich mit Hilfe seines Blindenstocks durch die Welt tastet, dann schnappt der Mitleidsreflex zu. Wenn eben diese Leute dann aber von seinem Richterjob am Bremer Arbeitsgericht erfahren, verwandelt er sich in Sekundenschnelle in einen Helden, ein Genie. Ein typischer Vorbildbehinderter. „Dabei hat beides nicht viel mit meiner Wirklichkeit zu tun“, erzählt Joachim Steinbrück. Wie diese Wirklichkeit aussieht, zeigt Ulrike Westermann in ihrem 30 minütigen Video „Freiheit in die Welt“.

Es ist Teil des filmischen Begleitprogramms zum Kongress „Enthinderung“ (wir berichteten gestern, Infos Tel.:  794 19 59). Zusammen mit einem Film über einen 13-jährigen Jungen ohne Unterleib (So, 16  Uhr) und einen Film über den kruden Behindertenalltag im Senegal (18.30  Uhr) wird es konfrontiert mit den zwar nicht behinderten, doch ausgesprochen blöd gesinnten „Idioten“ in Lars Triers Aufsehen erregenden Dogma-Film von 1998 (22.30  Uhr).

Westermann zeigt ihre zwei Viertel-Bewohner Joachim Steinbrück und seine Frau Friederike Kaivers, Rehabilitationslehrerin für Blinde und selber blind, nicht bei der Arbeit. Auch verzichtet sie darauf, die Geschichte der Erblindung – bei ihr ein Unfall, bei ihm ein langer Prozess – durchzukauen. Vielmehr begleitet sie die beiden eine Woche auf einen Italienurlaub. Unter der Sonne, bei Taxi- und Bahnfahrt, beim Sandburgbau mit dem Sohn eines Freundes, bei Klamotten- und Lebensmitteleinkauf, Cappuccinotrinken und Kochen und erwischt dabei unter der Hand jede Menge Allgemeingültiges über Weltaneigung und die Wechselwirkung von Einschränkung und Freiheit: Dinge, die für jedermann bedeutsam sind. Und mancher erinnert sich dabei vielleicht an den Bibelspruch von den Blinden, die die Sehenden sein werden. Entsprechend achtete die Regisseurin darauf, dass ihr Film mit und ohne Bilderflimmern funktioniert. Der Ton will nicht für die blinden Zuschauer die tatsächlichen Bilder beschreiben, sondern innere Bilder evozieren. Und da ist der Film nahe an dem, was für das Paar Alltag ist: das Generieren einer inneren Vorstellungswelt.

Jedes Vordringen in einen unbekannten Lebensraum fordert von dem Paar Mut und Entschlossenheit von Conquistadoren in unbekannten Kontinenten. Baustein für Baustein setzen sie die Topografie des Urlaubsorts anhand von Spür- und Hörbarem zusammen: etwa dem Wechsel der Pflasterbeschaffenheit; und die richtige Zugabteiltür wird kurzerhand mit einem Gummiband um die Klinke markiert. „Wie bei einem Mosaik“, sagt Friederike Kaivers.

So entstehen innere Szenerien, und die Farbe der Klamotten, das Rouge auf der Wange oder das Meer als romantische Kulisse für einen Kuss haben in etwa dieselbe emotionale Bedeutung für das Paar wie für den sehenden Teil der Menschheit. Und so ist das Ende des Blindenstocks nicht das Ende der Welt. Je besser sie gestimmt ist, erzählt Friederike Kaivers, desto schärfer und farbiger wird die innere Optik. Irgenwann philosophiert dann ihr Gemahl über das Wesen persönlicher Grenzen. Sie sind nicht statisch, sondern verschiebbar. bk

Kino 46, So, 19.30 Uhr