Symbiose

Auf dem Land gibt es viele Mücken. In der Großstadt nicht, dafür aber Ameisen und Motten, Fußpilz und Staubmäuse, Fruchtfliegen und Bettmilben, Silberfische und Schimmelpilze. Was es bedeuten kann, in Einklang mit den Natur zu leben

von FALKO HENNIG

Ich wuchs auf dem Lande auf, und da gab es von Frühjahr bis Herbst Mücken und Fliegen. Die Mücken stachen, aber waren wenigstens bei ihren Blutsaugaktionen mit einem Handschlag zu erledigen. Schwieriger war es mit einer anderen Sorte Insekten, ich beobachtete eine sehr besondere Fliege, die zufällig auf meinem Arm gelandet war.

Sie erinnerte mich eher an das Meisterwerk eines Juweliers denn an eine Verwandte der kot- und aasfressenden Spezies. Ihre Flügel waren gefleckt wie das Fell eines Leoparden oder Dalmatiners, der Leib schimmerte grünblau-metallisch.

Das Phänomenalste aber waren ihre Facettenaugen, die rot gepunktet waren. Ein höllischer Schmerz riss mich aus meiner Beobachtung; das Tier, das ich so bewundert hatte, war eine Bremse, sie flog viel schneller davon, als ich zuschlagen konnte, und hinterließ auf meinem Arm große weißliche Quaddeln, gegen die Mückenstiche geradezu unscheinbar waren.

Die Welt war voller Mücken, die, wenn man einschlafen wollte, mit ihrem sirrenden Geräusch dicht an den Ohren vorbeiflogen, Ameisen, die Säure verspritzten und damit einen noch unangenehmeren, viel länger anhaltenden Schmerz verursachten, und schließlich Bremsen aller Größe, bis hin zu so riesigen wie Heupferden, deren böse gefleckte Augen in gefühlloser Niedertracht blitzten.

Dann kam ich nach Berlin, und es war ein Traum, an dessen Erfüllung ich wohl nie geglaubt hätte. Im milden Abendsonnenschein lag ich auf dem Bett, durchs weit geöffnete Fenster drang das Zittern und Quietschen der Straßenbahn, das Grollen der U-Bahn von der Trasse der Schönhauser Allee, der Geruch von Zweitaktern und Dieselmotoren, und was das wichtigste war: keine einzige Mücke.

Das erste Mal in meinem Leben schloss ich die Augen und konnte sicher sein, dass mich nicht ein nervtötendes Summen aus dem ersten Dösen schrecken würde. Berlin war ein Paradies, und die Entfernung von der Natur machte mir nicht im entferntesten die Sorgen und Unannehmlichkeiten wie in den Jahren zuvor die Bremsen, Mücken und Ameisen.

So blieb es auch bis vor einiger Zeit, da begann diese eigenartige Verfärbung meines Fußnagels. Erst dachte ich, darunter hätte sich ein blauer Fleck gebildet, Andenken an einen misslungenen Schuss beim Fußball. Doch dann begann sich der Nagel bräunlich zu tönen und auf der einen Seite des Zehs zu lösen. Die Hautärztin stellte Nagelpilz fest und ging auf meine Klage, warum diese Pilze mit ihrem Befall nicht warten können, bis ihr Wirt tot sei, überhaupt nicht ein und sagte stattdessen: „Den müssen wir ziehen!“ Betäubt mit zwei Spritzen, die sie Kanäle nannte, zog sie ihn mit einem Ruck ab, es gab ein Geräusch wie wenn man Pflaster schnell von der Haut zieht.

Noch wirkte die Betäubung, als ich nach Hause humpelte und mich an den Computer setzte. Da sah ich etwas Grauenhaftes. Eine Ameise mit einem großen Krümel in den Mundwerkzeugen krabbelt vor mir an der Tastatur entlang. Ich schaute mich genauer um, das ist ja ein richtiges Gewusel, sie sind auf dem Hängeregistraturschrank, auf den Bücherstapeln, auf den Dielen, auf den Kartons mit Fotos, hinter dem Sofa.

Ob die Ameisen mein Zimmer aufräumen? Immerhin gelten sie doch auch als Polizei des Waldes? Warum sollten sie bei ihrem Umzug in die Stadt ihren Charakter so verändert haben? Nötig ist es ja schon lange mal. Wenn sie das täten, würde ich vielleicht auch meine alten Vorbehalte ablegen, Symbiose ist doch das Natürlichste, was es gibt. Noch ist es unangenehm, wenn sie mir über die Hand krabbeln. Und ob das gut ist für die Computer?

Vielleicht muss ich doch mehr mit Drogen experimentieren, um in Harmonie mit den Ameisen und Motten und Schimmelpilzen und Staubmäusen und Fruchtfliegen und Bettmilben in meinem Zimmer zu leben? Machen nicht gerade die Schimmelpilze unsere graue Umwelt farbenfroher?

Beim Graubrot jedenfalls spricht der leuchtend grüne und blaue Schimmel dafür, so blau wie damals der Leib der Stechfliegen. Silberfische im Bad, wie schön das klingt; und wem erschiene da nicht vor dem geistigen Auge ein zauberhaftes Kugelglas mit den silbern glänzenden Vettern der Goldfische? Der ewige Zirkel von Geburt, Leben, Sterben und Wiedergeburt, ich muss mich nur fallen lassen in meinem Zimmer und warten, dann nehme ich daran Teil in ewiger Harmonie.