„Das große Spiel“

Vor dem russisch-amerikanischen Gipfeltreffen: Im südlichen Kaukasus stehen „vitale strategische Interessen“ der USA jenen Russlands gegenüber. Der Konflikt um Öl und Geld ist in vollem Gange
von RAINER RUPP

Nach fast einem Jahrzehnt direkter amerikanischer Einflussnahme und Expansion in die an Öl und Gas äußerst reiche Region um das Kaspische Meer verläuft heute eine geopolitische Trennlinie wie ein tektonischer Graben quer durch das unruhige Gebiet, das größtenteils aus ehemaligen Sowjetrepubliken besteht. Auf der einen Seite des Spektrums stehen Russland und Iran, deren Sicherheitsinteressen sich auf vielen Bereichen überlappen und die beide gute Beziehungen zu Armenien pflegen. Auf der anderen Seite stehen Aserbaidschan und Georgien, deren neuen Bourgeoisien in Richtung USA und Nato schauen und von dort Garantien für ihre Sicherheit erwarten. Zugleich stehen beide Länder in enger Verbindung mit dem Nato-Land Türkei, das Russlands historischer Rivale in dieser explosiven Region ist.

Diese sehr unterschiedlichen politischen Interessenlagen und Verflechtungen zeigen sich auch darin, dass der Iran sich mit Kritik am russischen Feldzug im Nordkaukasus zurückgehalten hat, obwohl die Tschetschenen Muslime sind. Die islamische Republik beobachtet mit großem Misstrauen, wie sich die USA und andere Nato-Staaten vor ihrer Hintertür am Kaspischen Meer eingenistet haben. Und auch der Iran weiß, dass die islamischen Gotteskrieger, die in Tschetschenien mit großem persönlichen Mut ihr Leben einsetzen, für die westlichen Kapitalinteressen nichts anderes als nützliche Idioten sind, die weniger von göttlichen als von handfesten ausländischen Wirtschaftsinteressen unterstützt werden.

Willy Wimmer, Mitglied der CDU-Bundestagsfraktion und Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), warnt davor, dass wir es „in den südlichen Regionen der Russischen Föderation mit einem globalstrategischen Spiel zu tun haben, wo es um Rohstoffe wie Öl und Gas geht“. Es gebe – so Wimmer – massive Versuche bestimmter Kräfte, die Russische Föderation vom Süden her zu spalten. Unverkennbar steckt hinter diesen Entwicklungen das alte, schon seit Anfang des letzten Jahrhunderts in Gang gesetzte „Große Spiel“ (The Great Game), wie die Briten damals den Kampf um die Sicherung der unermesslichen Bodenschätze der Region nannten. Ihr Zugriff scheiterte mit der russischen Revolution und der Gründung der Sowjetunion. Im Zweiten Weltkrieg zerbrachen die Pläne der deutschen Nazis, mit Hilfe der kaukasischen Ölquellen ihre Kriegsmaschinerie zu schmieren, an Stalingrad. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion erleben wir einen erneuten Machtkampf um die Kontrolle der Region. Bereits im Sommer 98 machte der damalige stellvertretende Direktor im Büro des Staatssekretärs im US-Verteidigungsministerium, David Tucker, zuständig für Sonderoperationen und Konflikte unterhalb der Kriegsschwelle, aus den amerikanischen Absichten in dieser Region keinen Hehl. In einem richtungsweisenden Beitrag in der Zeitung einer amerikanischen Kriegsschule machte er deutlich, dass es für die USA eigentlich nur eine Region gibt, für die es sich wirklich lohnt zu kämpfen, nämlich „das Gebiet vom Persischen Golf nördlich bis zum Kaspischen Meer und östlich bis nach Zentralasien. Dies ist eine sehr bedeutende Region – ungefähr von der Größe der USA –, die etwa 75 Prozent der Weltölreserven und 33 Prozent der Erdgasreserven beherbergt.“

In der Tat gibt es heute kein größeres amerikanisches Energieunternehmen mehr, das nicht bereits in dieser oder jener massiven Form an der Energieförderung in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion rund um das Kaspische Meer beteiligt wäre. Ganz konsequent haben denn auch amerikanische Spitzenpolitiker in den letzten Jahren die Region um das Kaspische Meer wiederholt als „Zone vitaler amerikanischer Sicherheitsinteressen“ deklariert. Der einzige Unterschied zu den früheren Versuchen der westlichen Staaten, diese Region unter ihre Kontrolle zu bekommen, besteht heute in der veränderten Rhetorik.

Soweit bei uns überhaupt vom Kaukasus gesprochen wird, wird der Öffentlichkeit erklärt, dass es weniger um Öl und Geld geht, sondern vielmehr um Demokratie und Menschenrechte, die der Westen zum Wohle der Menschheit gemeinsam mit der freien Marktwirtschaft in die Region eingeführt und verteidigt haben will. Deshalb führt der Westen im Zeitalter der Neuen Weltordnung Washingtons keine Kriege mehr um Ressourcen, sondern nur noch wegen „humanitärer“ Anliegen. Folgerichtig bereitet sich die Nato im Rahmen ihres „Neuen Strategischen Konzeptes“ darauf vor, als US-Hilfstruppe im eurasischen Raum durch „humanitäre“ militärische Interventionen in ferne Regionen „Stabilität zu projizieren“. Mit Hilfe ihres Neuen Strategischen Konzeptes mandatiert sich die Nato selbst, zur Sicherung ihrer Interessen – geostrategischer, wirtschaftlicher und politischer Art – jederzeit und überall ohne UNO-Mandat militärisch einzugreifen.

Dem schiebt allerdings die im Januar verabschiedete neue russische Sicherheitsdoktrin einen Riegel vor, indem sie jedem potenziellen Aggressor, auch einem regionalen Aggressor an der verletzlichen russischen Südflanke, deutlich macht, dass er nicht gewinnen kann, denn am Ende eines jeden militärischen Konflikts mit Russland, der dessen „territoriale oder staatliche Integrität bedroht“, steht der Einsatz taktischer Nuklearwaffen, „wenn alle anderen Mittel zur Lösung der Krise erschöpft sind oder sich als unproduktiv erwiesen haben“. Für Georgien könnte die Lage schon bald problematisch werden. Auf der georgischen Seite der durch die Berge verlaufenden Grenze stellen ethnische Tschetschenen die große Mehrheit der lokalen Bevölkerung, wo die geflohenen tschetschenischen Kämpfer ungestört von georgischen Sicherheitskräften schon längst Unterschlupf finden und neue Stützpunkte aufbauen können. Wenn die tschetschenischen Separatisten russische Truppen auch von georgischer Seite her unter Feuer nehmen und überfallen, dann wäre Russland völkerrechtlich legitimiert, über die Grenze hinweg zurückzuschlagen, solange im UNO-Sicherheitsrat keine andere Lösung für das Problem gefunden wäre.

Amerika hat aber Georgien die Unverletzlichkeit seiner Grenzen zugesichert, wenn auch nicht garantiert. Bei einer solchen Entwicklung haben die USA die Alternative, entweder nichts zu tun und sich vor den Völkern der Region als Papiertiger bloßstellen zu lassen oder zu reagieren und sich auf eine mehr oder weniger direkte Konfrontation mit Russland einzulassen. Eine solche Reaktion würde aber vor dem Hintergrund der neuen russischen Sicherheitsdoktrin nicht nur für die unmittelbar Beteiligten, sondern auch für ganz Europa eine höchst gefährliche Dimension annehmen. Somit hat der Krieg in Tschetschenien alle Ingredienzen, um auch nach dem russischen Sieg erst richtig gefährlich zu werden.

Hinweise:In der Region lagern 75 Prozent der Weltöl- und 33 Prozent der ErdgasreservenAn der russischen Südflanke droht eine Konfrontation mit den USA