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Kosmischer Spiegel

Reiseziel Unterbewusstsein: Das Thalia zeigt Stanislaw Lems „Solaris“ als Bühnenstück  ■ Von Birgit Glombitza

Wer weit reist, hat viele Fragen. Zum Beispiel: „Wann gehts los?“ – „Du fliegst schon“, klärt das Bodenpersonal den unsicheren Raumfahrer Kelvin (Jan Schütte) auf und schickt ihn weiter nach Solaris. Flugbegleiterinnen führen derweil mit kaltem Lächeln und einem hohlem Gestenballett durch die Genesis des Reiseziels. Aufgeblasen mit einer klaren Mission und artigem Willen kommt Kelvin im Unbekannten an.

Der Psychologe soll den verschlampten Kollegen auf dem Planeten Lethargie und Hirngespinste austreiben. Bei soviel Sendungsbewusstsein sieht Kelvin gleich eine Wilde im Bastrock. Eine Eingeborene, wie sie einst die großen Eroberer beschrieben, die auszogen, die westliche Zivilisation auch den Wilden zuteil werden zu lassen. Ein Mädchen hüpft im Kleid der Romantik vorbei, zitiert Annette von Droste-Hülshoffs „Knabe im Moor“ und wird als ungeliebtes Phantasiegeschöpf zu Boden geschmissen. Kelvin sieht, was er denkt. Der ganze Planet, eine Luftspiegelung des kollektiven Unterbewussten. Viel Gruseliges, aber nichts Neues. Man kann noch so weit reisen und wird doch immer nur die Erde entdecken.

Zur Sonne, zum Mond, zur Utopie oder zum Universalpessimismus, den in der Gegenwart nur die Aussicht auf eine noch schlimmere Zukunft trösten kann. In den geräumigen Umkleidekabinen des Science-Fiction-Genres treffen sich himmelhoch jauchzende Romantiker wie erdenschwere Philis-ter. Und der polnische Romanautor von Solaris Stanislaw Lem ist der Letzte, der hier jemanden rausschmeißen würde. Nur rationalistischen Hochmut schätzt er überhaupt nicht und kühlt ihn in Solaris mit einer überraschend organischen Gegenutopie ab.

Sogar Gaiaisten macht er eine Freude, wenn er auf dem gleichnamigen Planeten einen intelligenten Ozean erschafft. Das Meer wehrt sich nicht nur erfolgreich gegen allen menschlichen Forscherwillen, es kopiert sich die Menschen nach seinem Bild und seiner Lust. Seine Dublikate von verstorbenen Ex-Gattinnen werden den Hinterbliebenen den letzten Nerv kosten und zugleich in eine Visionssucht treiben. Unterm Strich ist in diesem Kopienkabinett die Menschlichkeit die Summe all ihrer Defekte. Dabei bleibt Solaris humanistisch genug, um einen Status Quo zu finden, in dem die Schwäche des Menschen immer noch besser ist als die Vollkommenheit des Nichtmenschen.

In der Inszenierung von Jochen Dehn (eine Thalia Produktion in der Heinrich-Heine-Villa) geht es jedoch nicht um das Vexierspiel mit den Matrizen, nicht um Wunschträume und Lustobjekte, nicht um Schöpfer und Schöpfung. Die Projektion will bald als Zweitmensch ernst genommen werden. Bitterernst und so autonom, dass sie sich an der eigenen neurotischen Struktur abarbeiten darf. Immerhin ist Hary die Kopie einer Frau. Und um sich als solche komplett zu fühlen, gehört Hysterie und die Angst, ungeliebt zu bleiben, eben dazu. Schließlich kennen sogar Mutanten trübe Menstruationslaunen, auch wenn sie nur Getriebeöl und weißen Schaum spucken, sobald ihnen jemand wehtut. Und wenn Unmenschliche weinen, kann nicht einmal ein posthumes Himmelreich sie trösten. Utopien und Religion bleiben das Seelenbalsam reinrassiger Erdlinge. Da mag Hary (mit gutem Gespür für wunde Cyberseelen von Wiebke Mauss gespielt) mit ihren unmenschlichen Kontaktlinsen auch noch so erschrocken und erschröcklich zugleich aussehen.

Wenn sie sich mit ihrem Ex-Gatten wälzt und quält, übernimmt das psychologische Kammerspiel das Wort, dann verlässt pointiertes Timing und inszenatorischer Mut die Arena. Die Schauspieler ziehen zum althergebrachten Exorzismus und zur mimischen Leistungsschau aus an die Rampe. Dann wird aus Lem eben Tschechov, dann geht es nicht mehr um klugen Formalismus oder eigensinnige Experimente, sondern nur noch um ranzigen Impressionismus. Dafür muss man nicht fliegen. Dafür reicht ein alter Theatervorhang.

weitere Vorstellungen: So, 11.6. + Di, 20.6. + So, 25.6. + Mo, 26.6, jeweils 21 Uhr, Thalia

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