: Zeitreisen im Glitzerlicht
Durchs Weltall mit Marcel Duchamp, Hans Haacke und Lucio Fontana: Die Ausstellung „Camps de Forces“ zeigt in Barcelona einen Parcours zur Geschichte der kinetischen Kunst im 20. Jahrhundert. Das Universum hat keine Löcher, sondern allerlei Motoren, die tausend Farbtupfer blitzen lassen
von AURELIANA SORRENTO
Es waren zwei Schocks, erzählt Alexander Calder in seiner „Autobiography with Pictures“, die ihn zu seinen berühmten Mobiles anregten. Der erste war das Erlebnis eines Sonnenaufgangs in Guatemala, als die Morgenröte auf der einen Seite emporstieg und der Mond auf der anderen wie eine Silbermünze glänzte. Die zweite folgenträchtige Erschütterung hatte der Künstler bei einem Besuch in Mondrians Pariser Atelier: Die Wände waren weiß gestrichen und durch schwarze Streifen, farbige Rechtecke und Mondrians Bilder in geometrische Flächen aufgeteilt.
Die Begegnung mit der ordnungsbeflissenen De-Stijl-Abstraktion und der unfassliche Zauber eines Naturphänomens brachten Calder zu seinen beweglichen Konstruktionen. Von diesem Knotenpunkt ausgehend hat Guy Brett einen kaum beachteten Pfad in der Kunst des 20. Jahrhunderts verfolgt: Es geht um die kosmischen Reflexionen, in denen Künstler Modelle des Universums entwarfen oder ihnen nachspürten. Im Museu d’Art Contemporani de Barcelona (Macba) kann man nun das Resultat von Bretts Unternehmung besichtigen. Die Ausstellung „Camps de forces, un assaig sobre el cinètic“ („Kraftfelder, ein Essay über die Kinetik“) versammelt Künstler und Werke, die kunsthistorisch weit auseinander liegen, in den taghellen Sälen des Macba jedoch ungeahnte Korrespondenzen aufweisen. Wie ein weiß gleißender Fluss wogt und raschelt in der ersten Etage Hans Haackes „Narrow white flow“: ein Atlasstreifen, den der Luftzug eines Ventilators über den Boden flattern lässt. Auf der Stoffbahn brechen sich die Sonnenstrahlen in Funken, Lichtfäden und Glitzer, die wie auf einem Wasserstrom nach regelmäßigen Mustern vorwärts treiben. So werden Assoziationen zum ewigen Erdenlauf und der beständigen Wandlung der Materie sichtbar. Sie verschmelzen im Lichtspiel, das den zufälligen Weg der Strahlen im Gleichmaß ihres Widerscheins aufhebt.
„Der Zufall existiert nur in unseren Augen“, sagte Wols, in Anspielung auf die Gesetzmäßigkeit aller Naturphänomene. Wols biomorphe Albträume sind in Barcelona ebenso vertreten wie Henri Michaux’ enzephalogrammartige Aufzeichnungen von Naturkräften, die der Maler durch die Einnahme von Meskalin in sich aufrührte („Dessins Mescaliniens“). Obwohl Brett den Akzent auf die Kinetik der 60er- und 70er-Jahre setzt, will er auch belegen, dass sich Künstler des vergangenen Jahrhunderts in ihren Bildern überhaupt dem Weltall näherten. Einmal durch Abstraktion gegebener Phänomene, einmal durch den Tiefgang ins Unbewusste und oft durch ein Gleichnis: mit Formen, die auf jenes Leere oder Unendliche hinweisen, das wir zwar ahnen, aber nicht erfahren können.
So schuf Georges Vantongerloo ab den Fünfzigerjahren grazile, geschwungene Plexiglasskulpturen, in denen Farbtupfer wie von weitem blitzende Sterne irrlichtern. Scheinbar stehen diese späten Kreationen des De-Stijl-Künstlers in krassem Gegensatz zur strengen Linearität seiner frühen Raumplastiken. Aber auch vor Lazslo Moholy-Nagys „Licht-Raum-Modulators“, der den Galerieraum in eine Galaxie ephemerer, kreisender Lichtkörper verwandelt, erkennt man, dass die Raum-, Zeit- und Lichtstudien der konstruktiven Avantgarde unausweichlich zur Auflösung geometrischer Form führen mussten. Durch den hervorgehobenen Umgang mit Licht, schrieb Moholy-Nagy, würden wir in die Regionen eines neuen Raumgefühls kommen. Um dieses zu beschreiben, verwendete er das Wort „Schweben“.
Es ist gerade das Faszinierende an der Macba-Ausstellung, dass sie den Punkt aufzeigt, an dem die Ratio nicht weiterkommt und sich mit den Mitteln der Intuition, der Metapher, der analogischen Fantasie behilft. Auf die Chance einer schwankenden, aber womöglich vollständigeren Erkenntnis wird man von Gianni Colombos „Spazio Elastico“ aus dem Jahr 1968 eingestimmt. In Colombos abgedunkeltem Verschlag kann man nur eine silbrig scheinende Struktur aus herabhängenden Fäden ausmachen, die ultraviolette Strahlen beleuchten. Durch einen außen angebrachten Motor wird das Gewebe langsam hin und her geschoben, sodass das Raumgefühl des Besuchers im selben Moment ins Wanken gerät.
Der Widerspruch zwischen Abdriften und Klarheit tritt bei Jean Tinguelys gefederten und ratternden „Balubas“ und David Medallas farbenfrohen „Sandmachine“ und „Madmachine“ wieder auf. So clownesk, zusammengewürfelt und kladdrig sich diese Werke auch geben, funktionieren sie dank eines präzisen Mechanismus, der die immer gleichen Bewegungsabläufe vorgibt. Len Lyes „Blade“ schwingt und wippt wie ein Bauchtänzer, ist aber eine Stahlplanke, die ein Motor in Unrast versetzt. Und Takis’ schwebende Metallkörper scheinen zwar den Naturgesetzen zu trotzen, machen sich in Wahrheit jedoch gerade den Magnetismus zunutze.
Im Macba wird die Kinetik als ausgefeilter Versuch vorgeführt, ein komplexeres Bild des Kosmos zu liefern – ein Kosmos im Gleitflug zwischen Ordnung und Chaos. Dazu gehören auch Hans Haackes Variationen zum Thema Wasserzyklus, Gegos hängender Wald aus Eisenmodulen und Jesus Rafael Sotos „Penetrable“, ein von lose baumelnden Plastikröhrchen besetzter Durchgang. Zugleich führt die Schau auf die Urquellen zurück: Duchamps „Rotoreliefs“ und „Rotierende Glasscheiben“, die mittels Bewegung und optischer Täuschung ein virtuelles Volumen erzeugen, waren der erste Vorstoß in die vierte Dimension Zeit. Calders Mobiles aus den Dreißigern können da ebenso wenig fehlen.
Verblüffend bleibt jedoch, dass man von diesen Ausgangspositionen an Gordon-Matta-Clarks „Vectors“ und „Arrows“ oder Yves Kleins „Peinture Feu“ und anderen scheinbar disparaten Setzungen der Kunst des 20. Jahrhunderts bis zu Lucio Fontanas „Concetto Spaziale“ schlendert, ohne den roten Faden zu verlieren. Als wäre das wichtigste Anliegen der Künstler-Avantgarde trotz aller Brüche und Neuanfänge immer dasselbe geblieben, so wie Fontana es ausdrückte: „Eine neue Dimension für die Kunst zu schaffen, sie mit dem Kosmos zu verbinden, als ob er sich hinter der begrenzten Oberfläche des Bildes ausbreitete.“
Bis 18. 6., Museu d’Art Contemporani de Barcelona
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen