Minima Moralia

DIE ZUKUNFT DER BUNDESWEHR (3): Jenseits von Wehr- und Dienstpflicht ist eine Debatte über einen freiwilligen sozialen Dienst notwendig. Es geht um die soziale und bürgerliche Qualität der Republik

von WARNFRIED DETTLING

I.

Die Wehrpflicht wird fallen, früher oder später, und mit ihr der Zivildienst. Etwas Vergleichbares wird es danach nicht geben. Noch gleicht die Debatte einem Tanz um Tabus. Norbert Blüm hat es vorgemacht: Die Renten sind sicher. Es bleibt bei der Wehrpflicht, sagen Scharping, Schröder & Co. Doch die Realitäten sind stärker, hier wie dort. Bei den Renten bildet sich ein neuer Konsens. Bei der Wehr- und Dienstpflicht auch: de facto keinerlei Verpflichtung mehr, dafür mehr Freiwillige und mehr Hauptamtliche. Das ist für die sozialen Dienste sicher richtig und wichtig, doch die Rhetorik bleibt ohne Handlungsfolgen: ein Meer von unverbindlichen Erklärungen, in dem die eigentliche Frage versenkt wird: Lassen sich heute noch – und wofür? – gemeinschaftliche Verpflichtungen legitimieren? Die politische Moral einer Gesellschaft offenbart sich ja nicht in falschen Betten oder Konten, sondern in der Antwort auf die Frage, ob sie sich noch anspruchsvolle Ziele setzen kann und will: Ziele, die über den ökonomischen Erfolg und über den Austausch von Waren, Diensten und Ansprüchen hinausgehen. Es geht um die Frage, ob es noch etwas gibt, was den Bürgern so wichtig und so wertvoll ist, dass sie sich dafür, aus guten Gründen, wechselseitig in die Pflicht nehmen. Letztlich geht es um die soziale und bürgerliche Qualität der Republik.

II.

Die Wehrpflicht kann man im Rückblick interpretieren als die politische Aussage der Gesellschaft, dass Demokratie und Sicherheit, Friede und Freiheit Werte sind, die den Bürgern etwas wert sind und deshalb einen nicht freiwilligen Dienst von jungen Menschen legitimieren. In einer veränderten Welt, die keine Bedrohung, aber neue Risiken kennt, soziale wie internationale, stellt sich eine doppelte Frage: Lässt sich die Wehrpflicht überhaupt noch mit guten Gründen rechtfertigen? Und: Kann eine ähnliche Logik, wie sie einst der Wehrpflicht zugrunde lag, künftig auch eine allgemeine soziale Dienstpflicht legitimieren? Ist es vernünftig und zulässig, um der sozialen Qualität des Gemeinwesens willen von jungen Menschen zu verlangen, einen sozialen Dienst zu leisten? Es gibt gute Argumente dafür und dagegen. Die einen sorgen sich um den sozialen Zusammenhalt einer individualisierten Gesellschaft, andere plädieren für einen minimalen Staat oder eine minimale Moral. Für beides lässt sich trefflich streiten. Nur sollte klar sein, was geschieht, wenn Wehr- und Zivildienst ersatzlos fallen. Die Botschaft des Staates und die Selbstdarstellung der politischen Klasse sind dann eindeutig: Wir erwarten nichts mehr von den jungen Leuten. Wir betrachten sie nicht als soziale Bürger, sondern als Steuer- und Beitragszahler und als Anspruchsberechtigte. Es gibt Rechte, aber keine Pflichten. Im Übrigen verweisen wir auf Markt und Staat, wo man alles haben kann.

Es geht primär nicht einmal darum, wie man diese politische Attitüde wertet, als eine Art politisch-moralischen Nihilismus oder als liberal-emanzipatives Urvertrauen in Mensch und Gesellschaft. Es geht um die inneren Widersprüche einer politischen Philosophie, die sich ja in allen Parteien findet: Man kann nicht alles abräumen und sich später wundern, dass die Regale leer sind. Ein Staat, der nichts von seinen Bürgern erwartet, bekommt die Bürger, die nichts mehr (und wieder alles) vom Staat erwarten. Wer jede Idee einer verbindlichen sozialen Verpflichtung a priori aus seinem politischen Horizont verbannt, wird mit leeren Händen dastehen, wenn es um soziale Verpflichtungen gegenüber den Verdammten dieser Erde, den Asylsuchenden, den Ausgeschlossenen geht. Ohne soziomoralischen Grund, von dem aus Zumutungen an alle abgeleitet werden können (Steuern zu zahlen statt zu hinterziehen; soziale Zeit zu geben statt nur zu nehmen; an kommende Generationen zu denken statt „nach uns die Sintflut“) bleibt auf lange Sicht nur eine Ohne-mich-Haltung auf allen Gebieten. Der Berliner Politologe Herfried Münkler hat in einem Beitrag für das Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen (Juni 2000) daran erinnert, dass eine freiheitliche und soziale Demokratie ihren Preis hat und auch mit Zumutungen an die Bürger verbunden ist, die man nicht einfach suspendieren kann, ohne diese selbst in ihrem Kern zu spalten. Soziale Rücksicht und soziales Engagement sind keine Ressourcen, die von selbst nachwachsen. Die sozialen Nerven und Muskeln einer Gesellschaft wollen trainiert sein.

III.

Eine allgemeine soziale Dienstpflicht wird es nicht geben. Aber damit ist die Frage nicht erledigt, wie Politik und Gesellschaft darauf reagieren, dass die alten Formen und Inhalte des sozialen Kapitals möglicherweise schneller erodieren, als sie durch neue ersetzt werden. Wie können soziale Verpflichtungen und Selbstentfaltung zusammengedacht werden? Das ist die Grundfrage für eine nachhaltige Sozialpolitik. Für die aktuelle Debatte wäre schon viel gewonnen, wenn sie etwas weniger als Realsatire daherkäme, kein argumentatives Falschgeld in Umlauf brächte und das „double speak“ besser kaschieren könnte. 30.000 Wehrpflichtige? Wehrgerechtigkeit durch Losentscheid? Sechs bis neun (Scharping) oder fünf Monate Wehrdienst (FDP)? Es geht zu wie beim Metzger: Darf’s ein bisschen weniger sein? Falsche Argumente sagen, soziale Dienste lassen sich nicht als „Zwangsdienst“ erbringen. Die Zeugnisse von Millionen, die Zivildienst geleistet oder empfangen haben, sprechen eine andere Sprache, und vielleicht liegt das Geheimnis des Erfolgs darin, dass der Zivildienst beispielhaft soziale Verpflichtung mit individueller Wahlfreiheit zu verbinden verstand. Und was die Rhetorik aller Parteien betrifft, mehr Freiwillige zu mobilisieren, so lässt sich die Probe aufs Exempel ja leicht machen: Längst ist es Zeit für ein ordentliches Freiwilligen-Gesetz, in das der konsequente Ausbau freiwilliger sozialer Dienste integriert werden könnte, mit klaren Zielen und den notwendigen Mitteln. Ein entsprechender Vorschlag liegt lange vor, auf Initiative der Robert Bosch Stiftung erarbeitet von einer Kommisison, in der aufstrebende junge Abgeordnete aller Parteien mitgewirkt haben, Ute Vogt von der SPD, Matthias Berninger von den Grünen, Norbert Röttgen aus der CDU. Ihr „Manifest für Freiwilligendienste in Deutschland und Europa“ will diese Dienste quantitativ erweitern und qualitativ attraktiver machen, neu und dezentral organisieren – und den Anspruch jedes Jugendlichen auf einen sozialen Dienst durch einen „Gutschein“ einlösen, um so die jungen Menschen selbst zu stärken, initiativ zu werden. Dieser Vorschlag ließe sich rasch umsetzen, und eine Wiedervorlage in fünf Jahren würde zeigen, ob es gelungen ist, die Zahlen des Freiwilligen Sozialen Jahres (rund 13.000) wenigstens zu verdoppeln. Dann sieht man weiter und hat Erfahrungen gewonnen für die Zeit nach dem Ende des Wehr- und des Zivildienstes.

Hinweise:Eine freiheitliche und soziale Demokratie hat ihren Preis, der mit Zumutungen verbunden istWie können soziale Verpflichtungen und Selbstentfaltung zusammen gedacht werden?