Vom Nordkap bis Sizilien

Strom ist schon lange ein „europäisches“ Produkt und fließt auch über Grenzen. Bereits 1951 haben sich die großen westeuropäischen Länder zu einem gemeinsamen Verbundnetz zusammengeschlossen. Der weitere Ausbau ist längst geplant

Die Sache mit dem Strom lässt sich manchmal relativ einfach darstellen: Quer durch Europa verlaufen tausende Kilometer Autobahnen und Schienennetze. Ähnlich sieht es mit dem Stromnetz aus: Allein das westeuropäische Netz umfasste Ende 1999 über 160.000 Leitungskilometer und deckte eine Höchstlast von rund 250.000 Megawatt ab. Im Zuge der Liberalisierung des Strommarktes haben sich die europäischen Netzbetreiber auch neu organisiert. Vor gut einem Jahr wurde auf der Mittelmeerinsel Kreta die Union pour la Coordination du Transport de l’Électricité (UCTE) aus der Taufe gehoben. Heute umfasst die UCTE die Stromnetze in 20 Ländern. 1998 traten als bislang letzte Mitglieder Ungarn, Polen, Tschechien und die Slowakei dem europäischen Verbundnetz bei.

Der Stromaustausch über die Höchstspannungsfreileitungen ist stark gewachsen. 1998 tauschten die UCTE-Länder nach Angaben der Vereinigung Deutscher Elektrizitätswerke (VDEW) 146 Milliarden Kilowattstunden über die Ländergrenzen aus. Das entsprach etwa neun Prozent des gesamten Stromverbrauchs der Mitgliedstaaten. Mit einer Zunahme des Stromhandels und mit vielen neuen Marktteilnehmern steht der Verbundbetrieb vor neuen Herausforderungen. Die Aufgabe, die europäischen Kraftwerke möglichst gleichmäßig auszulasten und dort nachzuhelfen, wo gerade zusätzlicher Bedarf besteht, wird für die Netzbetreiber komplizierter.

Entscheidend ist, dass ein ständiger Austausch von Erzeugung und Bedarf über die Netzfrequenz stattfindet. Diese Frequenz beträgt im gesamten Netz 50 Hertz, damit alle Uhren gleichmäßig ticken und Computer nicht verrückt spielen. In Deutschland sind acht Unternehmen für den Betrieb des elektrischen Systems verantwortlich. Sie decken mehr als 80 Prozent des gesamten deutschen Strombedarfs aus den Netzen der öffentlichen Versorgung. „Eine enge Kooperation innerhalb des Stromverbundes ist die Grundlage für die sichere Versorgung“, erklärt Klaus Linke, der bei der Dortmunder VEW Energie AG für den Bereich Energieübertragung zuständig ist.

Auch im grenzüberschreitenden Bereich kommt es zu einem quasi automatischen Stromaustausch aufgrund der Frequenzregelung von 50 Hertz. Die großen Verbundnetze bieten überhaupt erst die technische Möglichkeit, große Kraftwerke zu betreiben. Großkraftwerke liefern heute europaweit mehr als 70 Prozent des gesamten Strombedarfs. Doch hat eine stark zentralisierte Energieversorgung zwei schwerwiegende Nachteile: Der produzierte Strom muss über längere Strecken transportiert werden als bei vielen kleinen Anlagen, sodass ein großer Teil der Energie unterwegs „verloren“ geht (Netzverlust). Außerdem ist der Wirkungsgrad großer Anlagen geringer, sodass mehr Primärenergie – Kohle, Öl, Gas und Uran – eingesetzt werden muss, um die gleiche Energieleistung zu erzielen.

Unterm Strich ist ein zentralisiertes, auf lange Netze gestütztes Versorgungssystem nicht effizient, trägt allenfalls zu einer erhöhten Energieverschwendung bei. Die gesamte Struktur des europäischen Verbundnetzes ist auf die Existenz von riesigen, bei Bedarf steuerbaren Megawatt-Stromfabriken zugeschnitten und nicht auf die Bedürfnisse einer umweltverträglichen rationellen Energieanwendung. Ganz anders sieht es bei erneuerbaren Energiequellen aus, die auf dezentrale Technologien und eine dezentrale Nutzung setzen. Mit einer Vielzahl kleiner Einheiten könnte die Stromversorgung der Zukunft verbrauchernah und klimafreundlicher werden. „Unterm Strich spricht alles für eine solche Regionalisierung der Energieversorgung“, meint der Energieexperte Klaus Traube.

Wie wichtig den großen Energieversorgern (EVU) die Netze sind, zeigen die Investitionen, die in den vergangenen Jahren in deren Ausbau geflossen sind. Rund die Hälfte ihrer Investitionen geben die Stromversorger nach Angaben der VDEW jährlich für die Netze aus. Rund 35 Milliarden Mark haben die Stromunternehmen hier zu Lande seit 1993 in den Ausbau der Netze gesteckt. „Deswegen braucht man sich auch nicht zu wundern, dass der Netzzugang und die Höhe der Gebühren so kontrovers debattiert wird“, meint ein Branchenkenner. Die Milliardeninvestitionen sollen sich schließlich rechnen, deshalb bestehen die großen EVU auch auf relativ hohen Netzzugangsgebühren.

Die UCTE-Mitglieder haben jedenfalls vorgesorgt. Klare Spielregeln, an die sich jedes Mitglied aus der Euroliga halten muss, schaffen die Rahmenbedingungen für eine sichere Benutzung der europaweiten Stromnetze. Sicher ist aber auch, dass aus technischen Gründen ein unbegrenzter Zufluss von Elektronen aus dem Ausland unwahrscheinlich ist. Atomstrom aus Frankreich kommt zwar auch ins deutsche Netz, doch den „strahlenden“ Elektronen sind allein schon wegen mangelnder Hochspannungsleitungen enge Grenzen gesetzt. Insgesamt sechs Transporttrassen führen von West nach Ost über den Rhein. Skandinavien mit seinem Überschuss an Strom aus Wasserkraftwerken ist durch zwei Seekabel mit Deutschland verbunden. Eine dritte Leitung, das „Viking Cable“, mit einer Übertragungsleistung von 600 Megawatt (MW) soll bis Ende 2004 in Betrieb gehen. Über das Kabel soll in Zeiten erhöhten Bedarfs Wasserkraftstrom aus Norwegen nach Deutschland fließen. Wenn dann mal in Norwegen wenig Regen fällt, sollen aus deutschen Stromfabriken Elektronen Richtung Norden strömen.

Bleibt da noch das Schreckgespenst vom billigen Atomstrom aus Russland oder der Ukraine. Motto: Wenn deutsche Atommeiler stillgelegt werden, dann gehen wir im Osten „nuklear“ fremd. Fakt ist: Die Strombrücken Richtung Osten sind längst demontiert. Die einzige Verbindung in Dünnrohr bei Wien hat ihren Betrieb eingestellt. Die Anlage wurde überflüssig, als Tschechien 1995 in das westeuropäische Verbundnetz integriert wurde. Bisher sind die technischen Aufwendungen noch sehr kostspielig, um russischen Drehstrom auf Westqualität zu trimmen.

Vorläufig malt die Strombranche also nur ein Schreckgespenst an die Wand, um den Atomausstieg in Deutschland zu blockieren. Richtig ist: Atomstrom aus dem Osten kann in den nächsten Jahren kaum in Richtung Westen fließen. Allein die russischen Stromfabriken sind bis zum Jahr 2006 so veraltet, dass sie noch nicht einmal die Energieproduktion des Jahres 1998 erreichen können. Erst dann, wenn deutsche oder andere kapitalkräftige westliche Stromkonzerne einen Teil des staatlichen russischen Monopolisten RAO EES Rossii (Vereinte Energiesysteme Russlands) aufkaufen, könnte über das ost- und mitteleuropäische Stromnetz Centrel auch Atomstrom in das UCTE-Netz fließen.

MICHAEL FRANKEN