100 Meter Schornstein mitten in der Stadt

Gas- und Dampfturbinenkraftwerke werden mit fossilen Brennstoffen betrieben. Sie erzeugen neben Strom auch Wärme. In dieser Kombination liegt ihr Wirkungsgrad weit über dem von Atomkraftwerken. Ein Besuch im Heizkraftwerk Berlin-Mitte, das auch den Potsdamer Platz beliefert

Wird der Atomausstieg bis 2030 trotz zu erwartender Widerstände umgesetzt, müssen Energiealternativen gefunden worden sein. Ingenieure mit Bodenhaftung machten sich an die Aufgabe, nach dem Irrweg der Kernspaltung die Energieerzeugung mit fossilen Brennstoffen zu rehabilitieren. Regenerative Energien wie Photovoltaik, Brennstoffzellen-Kraftwerke, Windenergie und Wasserpotenzial decken in absehbarer Zeit die Kapazitäten nach dem Abschalten der Meiler wahrscheinlich noch nicht. Deshalb wurde die altehrwürdige Kraftwerkstechnik einem Lifting unterzogen: Nach dem neuestem Stand der Technik sollen Schadstoffemissionen minimiert und Wirkungsgrade maximiert werden.

Ein Zauberwort bei diesem Vorhaben lautet „GuD“, Kurzform für Gas-und Dampfturbinenkraftwerk. Darin wird hoch effizient fossiler Brennstoff zur Erzeugung von Strom und – je nach Standort – auch Wärme genutzt. Dieses vor allem in dicht besiedelten Gebieten mit hohem Heizwärmebedarf taugliche Verfahren ist als Kraft-Wärme-Kopplung bekannt. Weniger bekannt, gleichwohl beeindruckend: der Wirkungsgrad von bis zu 90 Prozent bei einer solchen Anlage; bei reiner Stromerzeugung bleiben immerhin noch 60 Prozent. Zum Vergleich: Es ist nie gelungen, Atomkraftwerken mehr als 30 Prozent abzuringen.

Ein Rundgang durch das Heizkraftwerk Mitte im Herzen Berlins eignet sich wegen der geglückten Konstellation aus zentralem Standort, modernster Technik, ästhetischem Feingefühl und Liebe zum Detail für eine Lehrstunde in Sachen Zukunftstechnologie. Die Berliner Kraft- und Licht AG (Bewag) betreibt hier auf dem früher zu Ostberlin gehörenden Gelände zwischen Spree und Köpenicker Straße ein kombiniertes Gas- und Dampfturbinenkraftwerk. In den Ringbrennkammern zweier Gasturbinen wird Erdgas unter hohem Druck und Temperatur verbrannt, erste Voraussetzung für optimale Energieausbeute. Je heißer die Verbrennung, desto geringer die Abgase und desto höher auch der Wirkungsgrad. Doch jedem Material sind natürliche Grenzen gesetzt. Die Verbrennungsgase heizen die Schaufelräder der Turbine auf höllische 1.100 Grad Celsius auf, bevor sie in Drehung versetzt werden. Daran gekoppelt sind die Generatoren, an deren Wellen mit für Turbinen recht gemütlichen 3.000 Umdrehungen pro Minute die Bewegungsenergie in Strom umgewandelt wird. Verschwenderisch geht’s ab hier in herkömmlichen Kraftwerken zu. Die Abgasenergie wird einfach zum Schornstein hinausgeblasen.

Nicht so in GuD, in denen das Rauchgas dem Abhitzekessel zugeführt, dort Wasser im Kreislauf der Anlage verdampft und erst danach nur mehr lauwarm als Abgas durch den Kamin entlassen wird: mit 100 Metern Mündungshöhe ein weithin sichtbares stählernes Markenzeichen der Anlage.

Der Wasserdampf strömt nun mit etwa 500 Grad Celsius in eine nachgeschaltete Dampfturbine, die genau wie die Gasturbine Strom generiert. 380 Megawatt elektrische Leistung können ins Verbundnetz eingespeist werden, mehr als ein halbes Kernkraftwerk Stade. Doch auch hier endet für den Dampf der Weg durch die thermodynamischen Institutionen des Kraftwerkes nicht, denn zunächst wird noch seine nutzbare Energie in Wärmetauschern (Heizkondensatoren) an das Wasser des Heiznetzes abgeführt.

Auch das Heizwasser ist kein gewöhnliches. Die Betreiber der Anlage müssen sicherstellen, dass das System nahezu wartungsfrei arbeitet, schließlich möchte man den Kunden kalte Füße und sich selbst Verluste in der Energiebilanz ersparen. Verunreinigungen führen zu Korrosion an den Leitungen, daher darf nur speziell aufbereitetes, hoch feines Wasser durch die Rohre fließen. Mit einer Vorlauftemperatur von 135 Grad unterquert es auf seiner Reise den Potsdamer Platz, Rotes Rathaus, die Charité und den Ostbahnhof. 38.000 Wohnungen, 260 öffentliche Einrichtungen und 230 Abnehmer aus Dienstleistungsbereich, Gewerbe und Industrie sind heute Netznutzer des Heizkraftwerkes Mitte, dessen Kapazitäten damit bei weitem nicht erschöpft sind. An den Kapillaren des fein verästelten Heiznetzes ist noch Platz für weitere 28.000 Haushalte. Hier schließt sich der Kreis: Mit einer Temperatur von immer noch 50 bis 70 Grad Celsius kehrt das Fernheizwasser zur erneuten Energieaufnahme in den Wärmetauscher zurück.

GuD sind prinzipiell auch mit anderen fossilen Brennstoffen zu betreiben, beispielsweise mit Kohle. Erdgas gilt als vergleichsweise sauberer Energieträger, der zudem durch die Anbindung der Hauptstadt an die Pipelines osteuropäischer Staaten bequem und preiswert zu beziehen ist. Vorgesorgt hat man dennoch. Die Berliner Betreiber pflegen ihr Inselsyndrom und haben sich einen 9.000 Kubikmeter fassenden Tank auf das Gelände gestellt, von der Spree aus zu befüllen und immer randvoll mit extraleichtem Heizöl; für besondere Aufgaben während Stillstandsperioden – und natürlich zur Sicherheit.

In einem von der Hamburger Umweltbehörde 1999 in Auftrag gegebenen Gutachten über die Wirtschaftlichkeit der Kernkraftwerke Brokdorf, Brunsbüttel, Krümmel und Stade wurden GuD hinsichtlich Investitions- und Stromgestehungskosten, unter Berücksichtigung der steuerlichen Benachteiligung des Energieträgers Erdgas, als neu zu errichtende Kraftwerke empfohlen. In den Berechnungen hat man wohl noch nicht geahnt, dass Atomstrom unserer europäischen Bruderstaaten zu Discountpreisen auf dem deutschen Markt feilgeboten würde. Mögliches Szenario: eine Landschaft aus den schicksten Kraftwerken Europas, die dank dagoberteskem Knausern mit jeder Kalorie und dem Sportsgeist unserer Ingenieure rekordverdächtige Wirkungsgrade erzielen. Die Kundschaft, der Suche nach der Farbe ihres Stromes überdrüssig, erinnert sich daran, dass er früher einfach aus der Steckdose kam, und butterfahrtet ab sofort auf den Leitungen der Billiganbieter. War der Künstler seiner Zeit weit voraus, als er im Heizkraftwerk Mitte an der Spreepromenade Parkbänke mit Transformatorenabluft beheizen ließ? Aber vielleicht gibt es demnächst ja einige, die ein warmes Plätzchen brauchen. CHRISTINE JANSSEN