Multikulti – oder was?

Ein Karneval macht noch kein gleichberechtigtes Leben in einer multikulturellen Stadt

Veranstalterin Anett Szabó drückt es ganz lapidar aus: „Wenn der Kurde tanzt, tanzt der Koreaner noch lange nicht.“ In der Hauptstadt leben rund 184 Nationalitäten. Die größte Gruppe sind die Türken, die kleinste sind Einzelpersonen aus Antigua, Bahrain und Brunei. Berührungspunkte gibt es kaum.

Das Nebeneinanderleben bricht einmal im Jahr auf. Oder besser gesagt, es soll aufbrechen. Denn der Karneval der Kulturen macht Berlin nicht zu einer Stadt des friedlichen Miteinanders. Politische Konsquenzen, das wichtigste Instrument für ein gleichberechtigtes Leben der verschiedenen Ethnien, hat er nicht. Aber er kann Annäherungen und Anstöße dafür geben.

Der Karneval, der an diesem Wochenende bereits zum 5. Mal stattfindet, soll Menschen aus der „ganzen Welt mit einem einzigartigem Fest verbinden“, wie es in der Ankündigung heißt. 113 Gruppen aus 70 Ländern ziehen an Pfingstsonntag durch Kreuzberg. In farbenprächtigen Kostümen zeigen sie der Menge ihre geschmückten Wagen und tanzen zu exotischen Beats. Was als kleiner Umzug 1996 mit „nur“ 50.000 Zuschauern anfing, ist heute längst das „Multikulti-Mega-Event“ der Stadt.

Aber hat der Karneval das Zusammenleben tatsächlich beeinflusst? Wird nicht vielmehr eine Multikulti-Show inzeniert, obwohl Multikulti eher ein Lippenbekenntnis ist als politische und soziale Realität? Werden der türkische Gemüsehändler, die polnische Putzfrau und der vietnamesische Zigarettenhändler nicht wie Tanzbären vorgeführt?

Das weist Szabó als „völlig absurd“ zurück. „Als der Vorwurf kam, wir würden die Ausländer in die Baströckchen schmeißen und sie vorführen“, erzählt Szabó, „bin ich zu den Beteiligten gegangen.“ Die hätten nur herzhaft gelacht. Mit dem Karneval werde die Integrationspolitik nicht radikal geändert, aber er sei „ein Anstoß, über sie nachzudenken“. „Ich glaube an die Nachhaltigkeit“, sagt die 35-Jährige. Die Beteiligten, in diesem Jahr sind es 4.200, würden sich das ganze Jahr auf den „Tag der Tage“ vorbereiten. Die wenigsten Gruppen rekrutieren sich nur aus einem Herkunftsland, sondern aus vielen Ländern. So werden brasilianische Tänze von einer Gruppe aufführt, deren Mitglieder aus Polen und Deutschland stammen. Rund die Hälfte aller Tänzer sind Deutsche.

Szabó und ihre Kollegin Brigitte Walz – beides Deutsche – sind Anlaufpunkt in der Werkstatt der Kulturen, die Ideengeberin des Karnevals ist und das Event organisiert. Die Werkstatt in der Neuköllner Wissmannstraße wurde 1993 gegründet, um den verschiedensten ethnischen und kulturellen Communitys eine Plattform zu geben. „Wir haben tolle Veranstaltungen gemacht“, sagt Szabó. „aber sie waren viel zu wenig bekannt.“ Deshalb habe man vor fünf Jahren die Idee des Karnevals gehabt, „um die Leute aus dem Haus auf die Straße zu bringen“.

Viele der Beteiligten leben in binationalen Ehen. Der Großteil ist schon lange in Deutschland, hat einen gesicherten Aufenthaltsstatus. „Architekten, Köche, Studenten, Sekretärinnen sind dabei und alle Altersgruppen“, zählt Szabó auf. Doch von der Gesellschaft gänzlich Marginalisierte wie Kriegflüchtlinge, die in Heimen leben, sind nur wenige vertreten. Auch Vietnamesen, von denen über 8.000 in Berlin leben, sind dieses Jahr nicht dabei. Dafür aber immer mehr türkische Gruppen, die dem Karneval in den ersten Jahren skeptisch gegenüberstanden. Nur wenige Türken jubelten am Straßenrand den Wagen zu, obwohl der Zug durch Kreuzberg ging. „Es gibt in der Türkei keinen Karneval“, begründet Turgay Ayaydini die Zurückhaltung. Der Rechtsanwaltsgehilfe und Musiker organisiert eine der vier Bühnen auf dem Straßenfest, den Salon Oriental. Frauen mit dürftig verhüllten Brüsten hätten viele Türken abgeschreckt. Auch sei es schwierig gewesen, türkische Musiker zu bekommen, denn die verlangten ein hohes Honorar. Mittlerweile seien die Türken toleranter geworden, hat Ayadini beobachtet. Insbesondere das viertägige Straßenfest sei von Türken gut besucht. „Das ist doch ein Erfolg!“

Das sieht auch Süleyman Balci so. Er ist Sozialarbeiter und organisiert einen Wagen, an dem türkische und arabische Jugendliche teilnehmen, die er „intolerant“ nennt. Der Karneval bewirke bei den Jugendlichen einen Lerneffekt.

Deswegen hat der Karneval der Kulturen vielleicht tatsächlich einen „Multikulti“-Effekt, wenn man Multikulti als Miteinander unterschiedlicher Kulturen nicht nur im ethnischen Sinne versteht. Für den grünen Bürgermeister von Kreuzberg, Franz Schulz, transportiert der Karneval das „Zusammenleben und kulturelle Vielfalt“. Doch unters Volk will Schulz sich nicht mischen. „Ich werde mir den Zug aus privilegierter Sicht aus dem Rathaus angucken.“ An dem geht die Parade nämlich vorbei. Da gibt es Parallelen mit dem Karneval in Rio. Dort, wo die Umzüge als Domäne der Armen gelten, sitzen die Reichen auf mehrstöckigen Tribünen und schauen dem Spektakel zu. Berührungen gibt es keine. JULIA NAUMANN