Die Tyrannei der Intimität

Am Wochenende sind die 100 Tage des medialen Narzissmus von „Big Brother“ vorüber – und damit die Real-Life-Soap als postmodernes Labor der Identitätsbildung. Der Markt bekam, was er wollte

Zlatko & Co. sind keine Opfer des Zeitgeistes, sondern dessen legitime Kinder

von MARTIN ALTMEYER

Nun hat die „Tyrannei der Intimität“ (Richard Sennett), der wir uns durch die erste Reality-Soap im deutschen Fernsehen über Wochen ausgesetzt sahen, bald ein Ende. Das Feuilleton war indigniert und schoss tief und zielgenau. In einem anhaltenden Verachtungsdiskurs wurde die „Explosion des Privaten“ registriert (Andreas Zielcke, Süddeutsche), ein „neuer Exhibitionismus“ erkannt (Ulrich Greiner, Zeit); das „Spannerspektakel“ (Thomas Tuma, Spiegel) sei „die größte Grenzüberschreitung, seit es Fernsehen gibt“, für welche auch noch „die Zuschauer dem Medium die Absolution erteilt“ haben (Sandra Kegel, FAZ).

Die Empörung galt wahlweise dem Voyeurismus des Mediums oder der Schamlosigkeit der Wohngemeinschaft, die sich unter dem bedrohlichen Motto „Du bist nicht allein!“ von zahllosen Kameras beobachten und von sensiblen Mikrofonen belauschen ließ. Angesichts der medialen Inszenierung des unverfälschten Zusammenlebens in der Gruppe kam uns das Verdikt von Botho Strauß in Erinnerung, der im „Anschwellenden Bocksgesang“ für lebenslangen Entzug der Intimsphäre plädiert hatte, wenn sich jemand beim privaten Gespräch von Millionen Zuschauern begaffen lässt. Nur: Welche Intimsphäre hätte der allseits ungebildete Zlatko wohl verteidigen sollen?

Zlatko hat es vorher nicht gegeben. Die Kultfigur von „Big Brother“ ist im medialen Labor geschaffen worden. Der einfältige Schwabe („The brain“, Stefan Raab), an dem jede zivilisatorische Bemühung gescheitert schien, hat im Wohncontainer unter Beteiligung der Zuschauer seine Identität erst ausgebildet. Er ist, inzwischen zum Hype der Proll- und Spaßkultur aufgestiegen, ein Mediensubjekt und -objekt zugleich. Im Warentest des interaktiven Fernsehens ist ein Produkt enstanden, das sich nun multimedial vermarkten lässt. Mit dem Label „unverbogene Direktheit“ – einem Gütezeichen des Authentischen – hatte in dieser Kultur schon Verona Feldbusch Karriere gemacht, die ihren verblassenden Ruhm durch vorübergehendes Mitwohnen im Container quotenfördernd aufhellen konnte.

Auch Manu, Kerstin, Alex oder Verena, von den TV-Machern durch gezielte Szenenauswahl, gruppendynamische Rollenzuschreibung und marktgerechte Persönlichkeitsprofilierung als Typen entwickelt, bereichern inzwischen die Szene und bieten sich bei Talkshow-Auftritten den Medien zur weiteren Vermarktung an; John und Sabrina – für sie gab es beim Ausscheiden einen eigens komponierten Song – werden folgen. Jürgen gilt als Favorit auf den Hauptpreis, seit er echte Tränen beim Abschied von Zlatko vergießen durfte. Aber diese Jugendlichen in der Spätadoleszenz sind keine Opfer des Zeitgeistes, wie uns der lamentierende Verbund aus linksliberal-wertkonservativer Kritik, christlicher Predigt und staatlicher Medienaufsicht weismachen wollte, sondern dessen legitime Kinder.

Gegen die politisch-korrekten Anmaßungen des Opferschutzes (wir erinnern uns an die Farce: eine Stunde Kamerafreiheit pro Tag im Namen der Menschenwürde) haben sie die Präsentationsfreiheit des Individuums ins Feld geführt: Sie bräuchten keine mediale Auszeit, was sie wären, könnten sie auch zeigen, sie hätten nichts zu verbergen! Im Gegenteil, sie genossen die spiegelnde Aufmerksamkeit des Mediums, die ihnen erst Identität verlieh und nun eine Karriere verspricht. Immerhin hatten sie eine längere Expositionszeit, als sie die nachmittäglichen Talkshows bieten, bei denen die Gäste im Minutentakt ihre zwischenmenschlichen Probleme, gescheiterten Lebensprojekte und seelischen Defekte öffentlich vorführen dürfen – angeregt von Leuten wie Meiser, Arabella e tutti quanti, die vom einfühlenden Verstehen bis zur gnadenlosen Penetration über ein breites moderatorisches Arsenal verfügen. Das Fernsehen hat die Reservate des medialen Narzissmus, in denen sich früher nur die Schönen, die Reichen und die Bedeutenden getummelt haben, den einfachen Schichten des Volkes zur Identitätsbildung geöffnet.

Welche Intimsphäre hätte der allseits ungebildete Zlatko verteidigen sollen?

„Die Kamera liebt Dich!“ hat der unvermeidliche Slavoj Zizek seinen Beitrag zu „Big Brother“ betitelt: Die Leute bräuchten „den Blick der Kamera als Beweis für ihre Existenz“ (Süddeutsche). Die interaktiven Formate des Fernsehens liefern den Namenlosen die Chance, im Auge der Kamera Bedeutung zu erhalten und jemand zu werden. Im medialen Rückkopplungsprozess wird damit eine wesentliche Besonderheit menschlicher Individuierung erkennbar, die etwas mit dem Narzissmus zu tun hat: Das Selbst entsteht im Spiegel des Anderen.

Als Individuen entwickeln wir uns nicht wie der Apfel aus dem Kern – auch wenn die Propheten einer gentechnologischen Neuzüchtung der Spezies uns das glauben machen wollen –, sondern im Austausch mit unserer Umwelt. Im Echo und in den Spiegelungen, die sie uns zurückwirft, erfahren wir erst, wer wir sind. Wir sind nicht jene von der Bewusstseinsphilosophie behaupteten Subjekte, die sich über das cogito ergo sum ihrer Autonomie vergewissern, keine Elementarteilchen, die sich an andere bloß sekundär oder aus Not anheften. Subjektivität ist intersubjektiv vermittelt, Identität bildet sich in Anerkennungsverhältnissen, das Selbst entwickelt sich in der Interaktion mit dem Anderen. Im intersubjektiven Spiegel, auch wenn uns diese Abhängigkeit kränken mag, wollen wir als einzigartig anerkannt werden. Gerade vom Narzissmus – in der Tradition einer psychoanalytischen Amöbensage als beziehungslose Eigenliebe lange verkannt – wissen wir heute, dass er mit dem Gefühl zu tun hat, vom Anderen gesehen, beachtet oder gar geliebt zu werden. In der medialisierten Gesellschaft ist dieser Andere dem Intimraum von Familie und Peergroup entwachsen und im Publikum verkörpert, das als Zuschauer im Studio und vor dem Fernsehschirm Beifall verspricht. Das Medium liefert den subjektkonstituierenden Spiegel, dessen Vorläufer einmal der Glanz im Auge der Mutter war: videor ergo sum!

Ob der frühe Enzensberger die interaktiven Formate des Fernsehens schon im Blick hatte, als er, Walter Benjamin und Bert Brecht folgend, in utopischer Hoffnung die demokratisierende Option des Mediums beschwor, welches das einseitige Sender-Empfänger-Verhältnis aufhebt und echte Kommunikation erlaubt? Oder gilt angesichts der inszenierten Wirklichkeit doch die strenge Gegenthese von Adorno und Horkheimer aus der „Dialektik der Aufklärung“: Die Kulturindustrie betrügt die Menschen stets um das, was sie ihnen fortwährend verspricht? Wir können nur beobachten, wie das Medium Authentisches ständig in die marktgerechte Pose umwandelt und – wie in einem Spiegelkabinett – Realität und Fiktion ineinander schiebt. „Big Brother“ ist ein Lehrstück über Narzissmus und mediale Subjektwerdung in einer wahrhaft „reflexiv“ gewordenen Moderne.