Kultgräber unter Pilzen

Wo Fichte, Hegel, Brecht und Müller liegen: Eine Führung über den Dorotheenstädtischen Friedhof

von NADINE LANGE

Bertolt Brecht war hingerissen von seinem neuen Haus in der Berliner Chausseestraße. Begeistert schilderte er einem Freund den „Blick auf Hugenottengeneräle, Fichte und Hegel“. Gemeint waren damit ihre Gräber, denn Brechts letzter Wohnort liegt direkt neben dem „Begräbnisplatz für die Friedrich Werdersche und die Dortheenstädtische Gemeinde“ in Mitte. Mit der tollen Aussicht hatte der Dramatiker allerdings ein bisschen gemogelt: Nur von einem schmalen Toilettenfenster konnte er auf den Friedhof sehen.

Solche Sachen weiß Andreas Bernhard. Er ist Kunsthistoriker und führt schon seit zehn Jahren für das „Kulturbüro Berlin“ über die Friedhöfe der Stadt. Heute wollen vierzehn neugierige Menschen mitkommen. – „Nein, Ihren Rentnerausweis brauchen Sie mir nicht zu zeigen“, wehrt Bernhard beim Kassieren ab. Es reicht, zu sagen: „Ermäßigt.“ Die meisten zahlen den vollen Preis von 14 Mark.

Dann geht’s los, und zwar zackig. Bernhard, der ein Hawaiihemd unter dem schwarzen Sakko trägt, hat einen schnellen Schritt. Wir halten an einer Luther-Statue. Seit 1975 steht sie hier, um zu signalisieren: Das ist ein evangelischer Friedhof. Verständiges Nicken in der Runde. Viele Köpfe haben schon graue oder weiße Haare. Nur ein junges Pärchen, das manchmal leise tuschelt, senkt ein bisschen den Altersschnitt. Wie bei einem Schulausflug trotten wir hinter dem Führer her, der jetzt bei den Philosophen Fichte und Hegel stoppt. Die beiden liegen nebeneinander und haben zusammen schon einiges mitgemacht: In den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs bekämpften sich über ihnen deutsche und sowjetische Soldaten. Dabei zerstörten sie den vier Meter hohen Obelisken auf Fichtes Grab. Ein wesentlich kleinerer Ersatz wurde unter dem SED-Regime aufgestellt, das Hegel favorisierte. Jetzt sind die beiden Gräber etwa gleich hoch.

Eine kleine Dame mit blauer Spange im weißen Haar macht sich eifrig Notizen. Besonders wenn Bernhard von Affären und Skandalen aus dem Leben der Toten berichtet, huscht ihr Druckbleistift über das Papier. Er erzählt, dass der spätere DDR-Kultusminister und Nationalhymnentexter Johannes R. Becher im Drogenrausch eine Geliebte erschlagen hat. Rund um sein Grab liegen viele DDR-Prominente wie Anna Seghers, Hanns Eisler und schließlich auch Bert Brecht und seine Frau Helene Weigel. „Einen Grabstein, dass ein Hund dran pinkeln möcht“, hatte sich Brecht gewünscht – und bekommen: Ein schlichter Fels steht auf einem extra großen Grabfeld.

Auch einige Tote jüdischen Glaubens wurden auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof begraben. Häufig ist nicht klar, warum das so ist. Aber vom Schriftsteller Arnold Zweig weiß man, dass er hier gegen seinen Willen liegt: Er hatte verfügt, auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee bestattet zu werden. Doch die SED wollte den ersten Präsidenten ihrer Akademie der Künste dort nicht hinlassen. Sogar der Grabstein ist so geformt, dass darauf keine kleinen Steine abgelegt werden können, wie es jüdischer Brauch ist. Intensiv betrieben wird dieser Brauch dafür seltsamerweise am Grab von Heiner Müller. Auf der schmalen Stahlstele türmt sich ein Steinchenhaufen, und auch zwei Zigarren hat man dem Dramatiker mitgebracht. Ein Aschenbecher ist in die Grabbefestigung integriert – ein „Kultgrab“, sagt Bernhard. Trotzdem wachsen darauf Pilze.

Im Zickzackkurs geht es weiter auf dem mit Birken bepflanzten Hauptweg. Eine hagere ältere Frau mit gepunkteter Hose und ihre dickliche Freundin im bunt bedruckten Rock hängen immer ein bisschen zurück. Die beiden entdecken auch abseits unseres Pfades ständig spannende Details: eine griechische Inschrift auf der Rückseite eines Steins, einen ungewöhnlichen Vornamen oder ein besonders frühes Geburtsdatum. Die Punkthose ist unsere Musterschülerin. Manchmal trumpft sie auf und weiß ganz unglaubliche Dinge: Johann Heinrich Strack hat nicht nur die Siegessäule entworfen, sondern auch das Joachimsthalsche Gymnasium. Sie sagt das fast ein bisschen vorwurfsvoll.

Bernhard hätte es erwähnen sollen. Der seufzt und freut sich trotzdem, als die Dame ihn am Ende lobt. Sie hat eine Sammelkarte bei ihm gekauft – wahrscheinlich treffen sie sich auf einer anderen Führung wieder. Aber daran denkt Andreas Bernhard jetzt noch nicht. Er tritt durch das Friedhofstor und zündet sich eine Zigarette an.

Die nächste Führung findet am 12. 6. um 11 Uhr statt. Treffpunkt: Eingang Dorotheenstädtischer Friedhof,Chausseestr. 126