Die Trickser des Sekundären

Goldene Zeiten für Literatur (VII): Wer wann wieso welche Bücher fordert und warum es sowieso immer anders kommt

■ Abfall für alle? Die neue deutsche Literatur:Schnell geschrieben? Schnell gelesen? Schnellweggeworfen? Eine Artikelreihe über Popliteraten,Jungschriftsteller, Markterfolge und die Folgen

von JAMAL TUSCHICK

Die neue deutsche Literatur war die längste Zeit ein Mauergewächs mit dem Modermief des Ladenhüters. Wie Lehrer von ihren Schülern forderten Lektoren von Autoren, an einschlägigen US-Kalkulationen Maß zu nehmen. Gegenwärtig erfüllen vor allem deutsche Schriftstellerinnen unter vierzig ein Verlangen der Branche nach marktgängiger Prosa. Ihrem Publikum verschaffen sie das Vergnügen des Easy Reading, analog zum Softdrink-Sound des Easy Listening. Hervorgebracht wird eine zeitgemäße Hanni-&-Nanni-, nun also Honey-&-Funny-Literatur. Berlin ist ein wichtiger Schauplatz des Genres. Dort agieren auch die introvertierten Müßiggänger in Tanja Dückers Romandebüt „Spielzone“ (Aufbau). Sie betrachten sich gegenseitig: zunächst auf einer Trashmeile von Neukölln, später in Prenzlauer Berg. Alle kennen das Konsumentenglück von Aldi; bei Dückers gibt’s Jogurt für jeden. Darin gerinnt zur Essenz, was vom gesellschaftlichen Wandel bei der Autorin, Jahrgang 1968, angekommen ist.

Dass große Erschütterungen nicht unbedingt große Literatur zur Folge haben, entsprach einer Beobachtung, die Wolfgang Weyrauch veranlasste, von der Trümmerliteratur der konkreten Nachkriegsjahre zu behaupten, sie sei um den Preis der Poesie entstanden. Aus ihrer Agonie erwachte diese Literatur zuerst in gewissen Zuschreibungen, die auf das Konto von Kritikern gehen, die heute noch maßgeblich sind. Sucht man den Zusammenhang, der hier erzählende Prosa und ihre Würdigung in eine Ordnung bringt, stößt man auf die Gruppe 47. In ihr formierte sich eine Deutungsmacht mit Kartellcharakter. Sie trug dazu bei, dass bestimmte Figuren nie aus dem Spiel genommen wurden. Ob sie auch an der Vereitelung von Aufschwüngen beteiligt war, die neben Enzensberger, Grass und Walser jüngere Autoren in den Rang von Großschriftstellern hätten einrücken lassen können, ist fraglich. Außer Frage steht, dass die prominentesten Köpfe der schreibenden Republik im Dunst der Gruppe 47 groß geworden sind. Das beschreibt einen bizarren Zustand.

Die allgemeine Erwartung eines großen Wurfs, dem die Ereignisse ab 1989 den Stoff liefern sollten, geriet ebenso in die Zone der Enttäuschung wie beinah jede Forderung zuvor, den – im Verhältnis zum Gesellschaftlichen – inferioren Kern artistischer Emanationen positiv zu wenden. Literatur entsteht so nicht – und das wird nicht verstanden von genug Protagonisten im Literaturbetrieb, die ihre Karrieremaßstäbe an Textproduktionen anlegen. Hier entdeckt man den befremdlichsten Aspekt am Status quo in der Bereitschaft von Autoren, auf Interventionen mit Nachgiebigkeit zu reagieren. Die Voraussetzungen eines Kunstwerks sind an die Person seines Urhebers gebunden. Eine Bedingung für die Entstehung von Literatur liegt darin, dass sie für ihren Urheber erforderlich ist.

Die Anstrengungen von Lektoren, Autoren eine Richtung anzugeben, machen Sinn nur in der Scheinwelt medialer Aufbereitung. Zu behaupten, dass in dieser Sphäre die einen mit den anderen Komplotte schmieden würden, liefe auf eine zu großartige Vorstellung davon hinaus, was tatsächlich passiert. Vielmehr verfestigt sich ein Eindruck, dass Autoren als Erfüllungsgehilfen von Marktstrategen den Text aufsagen, der ihnen zugesprochen wurde. Unübersehbar ist das da, wo mit Geburtsdaten Kasse gemacht wird. Vor zwei Jahren debütierte ein Schüler der neunten Klasse. Mit einer Weisheit, die seine Schulzeit nicht überleben wird, erkannte Benjamin Lebert: „Wir sind alle Fleischbrocken in einer verdammten Chappi-Dose.“

Auch das Fräuleinwunder in der neuen deutschen Literatur ist dem Verdacht einer Steuerung ausgesetzt. Sibylle Bergs Debüt gab dem Trend die Richtung. Seither fahnden Lektoren bundesweit nach offenherzigen, juvenilen Schreiberinnen. Gefunden wurde Alexa Hennig von Lange. Ihresgleichen gilt eine kommerzielle Sehnsucht des Augenblicks. Die Kampagne stellt sich als Übung in Tautologien dar. Als Rolf Dieter Brinkmann 1962 im Appendix einer Anthologie erstmals programmatische Feststellungen traf, konnte das, was daran einer Verlegenheit geschuldet war, schon nicht mehr bestimmt werden. Brinkmann hatte Dieter Wellershoff Gedichte geschickt, die ihn dem – eine Realismusdebatte mit Erfolg anstrebenden – Kiepenheuer-&-Witsch-Lektor als Erzähler empfahlen. Ein Niederschlag des wellershoffschen Ehrgeizes in Brinkmanns erzählerischem Frühwerk ist offensichtlich. Martin Gregor-Dellin beschrieb den Dichter als „Benjamin einer Gruppe, die Kölner Schule genannt wird und unter der geistigen Führung von Wellershoff steht“. Angeleitete Literaten – die Dominanz des Sekundären und die Macht der Unberufenen sind in der Umgebung der neuen deutschen Literatur ein Standardmotiv.

„Wir besitzen in Europa die Kunst, die Dinge zu denken“, schreibt Baudrillard, „aber die Wahrheiten, die ins Auge springen, liegen in der Sphäre von Manhattan.“ Ende der Achtziger wurde deutschen Autoren empfohlen, Amerika in den Blick zu nehmen; etwa um in der Schule von Paul Auster, dem Trickser von Brooklyn, zu lernen, wie man einen Text erstellt, der Rezensenten auf Kafka bringt. Welthaltigkeit war das Zauberwort, kurzweilig sollte Prosa zudem sein. Wie man anspruchsvoll unterhält, hieß es, müssten sich deutsche Schriftsteller von amerikanischen Kollegen sagen lassen.

Zu dieser Zeit beklagte Frank Schirrmacher „zwanzig Jahre Stillstand“ in der deutschen Literatur. Obwohl eine historisch beispiellose Förderung den Nachwuchs begünstige, brächten die alimentierten Autoren nicht mehr fertig, als „die abgegriffenen, unproduktiv gewordenen Denkbilder einer veralteten Avantgarde“ weiter zu verschleißen. Erhellender als dieser Befund im Geiste Reich-Ranickis, der seit Thomas Mann alle Lichter immer kleiner werden sieht, erscheint seine Wirkung. Volker Hage antwortete im Spiegel. Seine Einwände gegen Schirrmachers Ansichten begründete er mit Werken „jüngerer“ Autoren. Er führte auch Botho Strauß und Edgar Hilsenrath an. Die aktuellste Gegenwartsliteratur (um 1990) könne immerhin mit „kleinen Perlen“ aufwarten. Hage meldete: „So überraschend es klingen mag: Die deutsche Literatur erlebte in den Achtzigerjahren, was rasche, große Auflagen angeht, eines der erfolgreichsten Jahrzehnte in ihrer Geschichte.“ In der Zeit bestimmte Hubert Winkels seinen Standpunkt in doppelter Abgrenzung, namentlich von Schirrmacher und Hage, und Reinhard Baumgart repetierte die Differenzen bald darauf am selben publizistischen Ort.

Vermutlich wurde die Feuilletonkontroverse von ihren Teilnehmern auch als Gesellschaftsspiel aufgefasst. So sah das Roger Willemsen in einem Spiegel-Aufsatz aus dem Jahre 1992. Kühl zog er die Klammer: „Die Streitenden sind immer dieselben, sie kennen sich untereinander so gut, dass sie ihre Botschaften auch über die Theke austauschen könnten.“ Willemsen, der bei dem Gespräch unter Redakteuren keine Investitionen schützen musste, prägte das Wort von der „intellektuellen Autofellatio“.

Auch spätere Versuche, ein öffentliches Gespräch über Literatur zu führen, verödeten an diesem Punkt. Der Gegenstand verweigert sich dem Verlangen, mit hoch gestimmten Äußerungen noch einmal einen Prospekt zu errichten, in dem ein verspätetes Kulturbürgertum sich zu Hause fühlen könnte. Literatur wird heute und schon länger in kleiner Münze ausgegeben. Sie gelingt nur noch dort, wo sie sich im Widerstand gegen einen Fächer aus Leichtigkeitsattitüden und unverbindlichem Gehabe differenziert. Das findet man bei Franz Dobler. Der Autor beschwört den Zauber der Vororte, als die sich kleinere Städte in ihren Beziehungen zu den Metropolen letztlich darstellen. Oft ist nicht viel zwischen dem erzählenden und dem biografischen Ich einer Dobler-Geschichte. Stets ist ihr Sound unverkennbar. Er entsteht aus der Cowboy-Mischung von Aufrichtigkeit und Lakonie. Man spürt, dass Dobler eine fixe Idee von einer guten Geschichte hat, eine Ideallinie im Hinterkopf sozusagen, auf der er seine Figuren mit Absturzbereitschaft balancieren lässt. Den Topos der Heimatliteratur revitalisiert er, indem er seine anarchisch-bayerische Prosabarke (elementares Sprechen/unverstellter Blick) auf amerikanischen Erzähleinflüssen fahren lässt.

Ein alter Streit entzündet sich an der Frage, ob in der Nachbarschaft des Eingeführten und des Durchsetzbaren etwas stattfindet, was vom Feuilleton zu Unrecht nicht beachtet wird: Slam Poetry. Die Faszinationsstränge, an denen die deutschen Adaptionen einer um 1969 jungen amerikanischen Literatur in die Jetztzeit verlängert werden, verdanken ihre Dauerhaftigkeit vielen Missverständnissen.

Nicht ausreichend begriffen wird, dass die artistische Absonderung im literarischen Untergrund nicht allein eine Alternative oder Parallelsphäre zum kulturellen Hauptbetrieb war. Sie konstituierte sich auf der Basis willentlich herbeigeführter Unvereinbarkeit („keine kulinarischen Sprachgebilde“, so Jürgen Ploog) mit dem großen Rest. Vielleicht sollte man doch noch mal feststellen, dass der literarische Untergrund sein Selbstverständnis ursprünglich nicht aus einer Bodensatzideologie bezog. Vielmehr war er ein geistiger Ort für solche, die darauf bestanden, ihre Entdeckungen außerhalb der Massenproduktion von Sinn und Unsinn zu machen. Sie wollten sich von der Bewusstseinsindustrie nicht an die Kette preiswerter Instantlösungen legen lassen. Darum geht es heute nicht mehr.

Autorinnen wie Gabriele Goettle, Marieluise Scherer und Sabine Riedel nährten eine Weile die Hoffnung, die deutsche Literatur könne sich im literarischen Journalismus erneuern. Fest steht, dass sie an den ethnischen Rändern der Gesellschaft intensiv befruchtet wird. Bei Feridun Zaimoglu und Selim Özdogan erscheint vieles als Überschuss und Chance, was einmal nur Zweifel und Verlust war. Das Glück der späten Geburt erspart den Begünstigten nicht zuletzt die intellektuellen Krämpfe ihrer Vorgänger aus der Migrantenautoren-Generation, die ihre Publikationszusammenhänge noch in einer auf Lebenshilfe ausgerichteten „Ausländerkultur“ suchen mussten.

Daneben agiert eine Phalanx rasant publizierender Generationsgenossen, die gleichermaßen das Feuilleton und den Buchmarkt beschicken. Wiglaf Droste, Michael Rudolf und Jürgen Roth gehörten dazu. Auf ihren Erzählstrecken kultivieren sie den kupierten Witz der verbummelten Studenten, mit einem im Humor versenkten Faible für Fußball und Bier. Die Mokanzliteraten der Neuen Frankfurter Schule waren ihre Lehrer. Sie haben erheblichen Anteil daran, dass sich die deutschsprachige Literatur der Neunziger bei summarischer Betrachtung als ein Projekt der Reanimation überkommener Erzählmodelle darstellt. Weder die Einschließung von Theorie im Narrativen noch schierer Erzähleskapismus, um die Pole zu nennen, gingen über das hinaus, was vorher vorhanden war.

Eine formale Erweiterung fand nicht statt. Sie wurde wohl auch nicht angestrebt. Alles drehte sich darum, bewährte Muster regelrecht oder mit Vorbehalten auszuführen. Eine Angelegenheit für pendelnde Profis: zwischen den diversen Positionen im Betrieb und den Selbstdarstellungsoptionen in einer beschränkten Öffentlichkeit.