Das böse F-Wort

Die EU-Außenminister beraten derzeit wieder die Reform der Union. Joschka Fischers Plädoyer für eine „Europäische Föderation“ wird nicht offiziell diskutiert, sorgt aber für Aufregung. Eine Analyse

von CARSTEN SCHYMIK

Seit langem hat keine Idee die EU-Politiker so gespalten wie Joschka Fischers Vision einer „Europäischen Föderation“. Frankreichs Innenminister Chevènement sah darin den Versuch, die deutsche Dominanz durchzusetzen – und die spanische Vizepräsidentin der EU-Kommission, Loyola de Palacio, betrachtete die Initiative gestern noch „mit Sorge“, da sie darauf hinauslaufe, „Europaparlament und Kommission abzuschaffen“. Ganz anders Frankreichs Außenminister Védrine. Er schrieb in einem Brief an den „lieben Joschka“ (am Sonntag in Le Monde publiziert), dass er Fischers Vorstoß „willkommen und angemessen“ finde. Auch wenn dessen „dynamische Vision“ jetzt nicht diskutiert werde, gebe sie „der Union neuen Schwung“.

Doch was verbirgt sich hinter dem europapolitischen Tabubruch des „Privatmanns Fischer“, Europa langfristig in einen demokratischen Verfassungsstaat umzuwandeln und diesen mit dem Begriff „Föderation“ zu belegen? Die Vision der „Vereinigten Nationalstaaten von Europa“!

Fischers Föderationsidee verspricht damit eine Synthese für den Grundwiderspruch im Prozess der Staatswerdung Europas, an dem bislang noch jede Debatte gescheitert ist. Er will nämlich beides, sowohl den Fortbestand des Nationalstaats als auch die konsequente Demokratisierung Europas. Doch so bestechend der Entwurf einer demokratischen und nationalstaatlichen Föderation auf den ersten Blick erscheint, letztlich erweist er sich als ein weiterer Versuch zur Quadratur des europäischen Kreises. Auch in Fischers Zukunftsvision lässt sich das Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und Nationalstaat nicht auflösen.

Der Nationalstaat soll nach Fischers Ansicht im Rahmen einer künftigen Föderation nicht nur fortexistieren, sondern auch „eine wesentlich stärkere Rolle behalten, als dies die Bundesländer in Deutschland tun“. Das Zauberwort lautet hier Subsidiarität, von Fischer neu übersetzt als „Souveränitätsteilung“. Das Fundament der Föderation werde ein Verfassungsvertrag sein, der zu einer „grundlegenden Neuordnung der Kompetenzen sowohl horizontal, d. h. zwischen den europäischen Institutionen, als auch vertikal, also zwischen Europa, Nationalstaat und Regionen“, führen soll. Die Föderation soll auf „Kernsouveränitäten“ beschränkt sein, der Rest bleibe nationalstaatlich.

Welche Kernsouveränitäten Fischer konkret meint, sagt er nicht. Allerdings schließt er eine Renationalisierung bereits europäisierter Politikfelder aus, so dass vor allem Binnenmarkt und Währung zur Kernsouveränität Europas zu rechnen sein dürften. Zudem wäre die Gründung einer Föderation sinnlos, deren Kompetenzen nicht über die der heutigen EU hinausgehen. Als weitere Kernsouveränitäten hat Fischer demnach vermutlich zwei Integrationsprojekte im Auge: erstens den Aufbau eines gemeinsamen Raums des Rechts und der inneren Sicherheit, den er als „Europa der Bürger“ begrüßt, und zweitens die Entwicklung einer gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die er als notwendige Konsequenz der Währungsunion darstellt.

Was aber bliebe dann vom Nationalstaat noch erhalten? Mit Währung, innerer und äußerer Sicherheit gingen bereits jene Bereiche in Föderationskompetenz über, die Fischer selbst als die „drei wesentlichen Souveränitäten des modernen Nationalstaats“ bezeichnet. Hinzu käme die supranationale Verantwortung für den Binnenmarkt, dessen Regulierung schon heute über die Wirtschaftspolitik hinaus andere Politikfelder wie etwa den Umwelt- und Verbraucherschutz einbezieht. Eine Föderation, die mit den von Fischer anvisierten Kernsouveränitäten ausgestattet ist, könnte ihre Mitglieder weiterhin Nationalstaaten nennen. Mit der uns vertrauten Definition des Nationalstaats jedoch wären diese faktisch zu Bundesländern degradierten Einheiten nicht mehr zu charakterisieren.

Der Verlust nationaler Souveränität könnte allenfalls im System der horizontalen Gewaltenteilung der Föderation ausgeglichen werden. Die Nationalstaaten hätten eine stärkere Rolle als die deutschen Bundesländer, wenn sie auf Föderationsebene nicht nur legislative, sondern auch exekutive Befugnisse erhielten. Fischers Vorschlag einer Kollektivregierung, die in „Fortentwicklung des Europäischen Rates [...] aus den nationalen Regierungen heraus gebildet“ wird, würde dies gewährleisten, die Alternative der „Direktwahl eines Präsidenten“ dagegen nicht. Spätestens hier kommt der Grundwiderspruch der Europäisierung politischer Herrschaft wieder zum Vorschein. Das Gewicht der Nationalstaaten lässt sich nur auf Kosten demokratischer Partizipationsmöglichkeiten stärken.

Gleiches gilt für Fischers Vorschläge einer europäischen Legislative aus zwei Parlamentskammern, einer Bürgerkammer und einer Staatenkammer. Die Bürgerkammer soll im Vergleich zum heutigen Europaparlament stärker nationalstaatlich verankert sein, indem ihre Abgeordneten ein Doppelmandat im europäischen und einem nationalen Parlament wahrnehmen. Diese Abgeordneten könnten jedoch nicht wie bisher direkt gewählt werden. Wahrscheinlicher wäre vielmehr ihre parlamentarische Ernennung.

Die zweite Kammer soll die Nationalstaaten entweder in Form eines „Senatsmodells“ oder eines „Bundesratsmodells“ repräsentieren. Beim Senatsmodell würden wie in den USA zwei „Senatoren“ pro Mitgliedstaat direkt gewählt, dürften aber nicht parallel einer nationalen Regierung angehören. Beim Bundesratsmodell wäre die Kammer wie in Deutschland aus „Ministerpräsidenten“ der Mitgliedstaaten zusammengesetzt, die aber nur indirekt auf Grundlage nationaler Parlamentswahlen legitimiert wären. Erneut zeigt sich, dass alle Optionen, die den parlamentarischen Einfluss der Nationalstaaten erhöhen, das Demokratiedefizit der Föderation zugleich verstärken.

Zugespitzt sehen wir uns schließlich mit zwei grundsätzlich verschiedenen Varianten einer Europäischen Föderation konfrontiert. In der nationalstaatlichen Variante mit Kollektivregierung und Bundesratsmodell könnten die Mitgliedstaaten ihre Stellung im Vergleich zur heutigen EU bewahren. Direktwahlen zu den Föderationsorganen würden dann aber entfallen. In der demokratischen Variante mit Präsident und Senatsmodell erhielte die Föderation eine demokratische Legitimationsbasis, allerdings verbunden mit dem Ausschluss der Nationalstaaten von den Föderationsorganen. Am Ende steht daher die Erkenntnis, dass das böse F-Wort seinen Schrecken nicht verliert, weil die Gleichung zwischen Nationalstaat und Demokratie nicht aufgeht. Auch in Fischers finalem Szenario der „Vereinigten Nationalstaaten von Europa“ wird sich entweder unser Verständnis demokratischer Herrschaft oder unser Begriff nationaler Staatlichkeit wandeln müssen.

Hinweise:Fischers Föderation degradierte die Nationalstaaten faktisch zu „Bundesländern“Das Gewicht der Nationalstaaten ließe sich nur auf Kosten demokratischer Partizipation stärken