Von Unrecht und Übermut

Underdog Slowenien trumpft im bislang dramatischsten Spiel dieser EM gegen Jugoslawien auf, um nach vermeintlich sicherer 3:0-Führung binnen sechs Minuten in Überzahl ein 3:3 zuzulassen

aus Charleroi BERND MÜLLENDER

Jugoslawien gegen Slowenien: Soll man sich das wirklich antun? Will man Spieler bewundern wie Nadj und Dudic hier oder wie Udovic und Rudonja da? Ist doch nur ein Spiel für Insider. Und passenderweise wurden die Mannschaftsaufstellungen im Stadion nur in Landessprache durchgesagt.

Natürlich war es für die Fans ein Feiertag, vor allem für EM-Neuling Slowenien, das sich überraschend qualifiziert hatte und Wettquoten auf den EM-Titel nahe der Nachweisgrenze aufbietet. Den ganzen Tag über schien die südbelgische Industriestadt Charleroi zur Metropole Sloweniens geworden. So viele blaugrünweiße Fans – kaum zu glauben, dass das kleine Land überhaupt so viele Einwohner hat.

Dennoch war der Monumentalbau mitten in Charlerois Zentrum mit höchstens 15.000 Zuschauern kaum halb voll: das bislang leerste aller nach Uefa-Angaben seit langem ausverkauften Stadien. Und so wurde die EM-Premiere von Charleroi, gedacht als Generalprobe für das prophezeihte blutrünstige Randalematch am Samstag zwischen Deutschland und England, zu einer Aufführung ohne Beteiligte. Stattdessen wurde der vermeintliche Ladenhüter zur bislang größten sportlichen Show des Turniers.

Alex Ristic, der lustige bosnische Trainervogel in wechselnden deutschen Diensten, checkte gerade ein als balkanischer TV-Fachmann für das ARD. Frage: „Wie geht’s aus, Herr Ristic?“ Antwort: „Danke, mir geht gut.“ Nachher ging mitleidvoll nicht mehr so gut: „So junge Mannschaft, so junger Trainer, so unerfahren.“ Er meinte die Slowenen: Die hatten den ersten Titel gewonnen – in Tragik und Dramatik. Erst demütigten sie den mächtigen Gegner, dann sich selbst.

Ristic’ dicker Kollege Vujadin Boskov, Chefcoach der Jugoslawen im mittlerweile 70. Lebensjahr, war in der 57. Minute aufgesprungen. Lief an den Spielfeldrand. Klatschte in die Hände wieder und wieder. Eine Routinegeste, anfeuernd gemeint. In diesem Moment wirkte sie wie die Verzweiflungstat eines alten Mannes.

Sloweniens bärenstarker Zlatko Zahovic hatte gerade mit eiskalter Selbstverständlichkeit zum 3:0 eingeschlenzt und war damit erster Doppeltorschütze der EM geworden. Der selbst ernannte EM-Geheimfavorit Jugoslawien wurde verhöhnt und verspottet. Die jugoslawischen Spieler schleppten sich zum Anstoßpunkt. Ob die Spieler ihren Boskov beachteten? Mehrheitlich hatten sie die Hände in den Hüften. Ausdruck verheerender Arroganz und Lustlosigkeit.

Es kam noch schlimmer. Drei Minuten nach dem 3:0 für die exjugoslawischen Ministaatler hatte Sinisa Mihajlovic, selbst ernannter Freund des einstigen Kriegsverbrechers Arkan, der mit völkerversöhnendem Fehlpass schon das 0:3 eingeleitet hatte, die Hände aus den Hüften gekramt: Frustriert und unbeherrscht schubste er Gegenspieler Ceh um und flog mit Gelb-Rot vom Platz.

3:0 mit elf gegen zehn. Die slowenischen Fans wussten gar nicht, wie sie in diesem Stadium der Verzückung gleichzeitig brüllen, hopsen, singen, jubeln und sonstwas sollten. Keine Viertelstunde später wussten sie nicht, wie man gleichzeitig weinen, trauern, schimpfen kann, schwer enttäuscht sein, wütend und sonstwas.

Denn was danach kam, dürfte der Fußballwelt einen neuen statistischen Rekord beschert haben. Innerhalb von sechs Minuten, zwischen der 67. und 73. Minute, glichen die dezimierten Jugoslawen aus. Eine historische Tat aus ihrer Sicht. Boskov nannte die krasse Wende nachher „intellektuell nicht zu verstehen“. Ungerechtigkeit aber hatte einen neuen Namen: Jugoslawien. Übermut und Dummheit hören jetzt auf den Namen Slowenien.

Die Slowenen konnten mit der unbegreifbaren Führung nicht umgehen und stolperten ermüdet dem Gegner die Chancen zu. Nachher wollten sie ihren Frust nicht zeigen. Ihr Jungtrainer Srecko Katanec (36), früher Kicker beim VfB Stuttgart, ließ sich vom Kollegen Boskov widerstandslos rechts-links-rechts bruderküssen und mitteilen, Slowenien habe „eine gute Komposition von Spielern“. Nett gesagt: Boskovs Stehgeiger-Combo war so harmonisch wie ein Oratorium von Stockhausen.

„Es war, wie wir versprochen haben“, sagte Katanec, „wir spielen für die Zuschauer, wir greifen an, wir spielen mit.“ Und Miran Pavlin, der in diesem einen Spiel mehr gute Szenen hatte als in der ganzen Abstiegssaison beim Karlsruher SC, strahlte stolz mit sich selbst um die Wette: „Ich habe schon vorher prophezeiht, bei uns ist alles möglich.“ Die Spanier zittern sich schon dem Sonntag entgegen. Und die Wettbüros der Titel-Quote.

Jugoslawien: Kralj - Dudic, Djukic, Mihajlovic, Nadj - Dejan Stankovic (36. Stojkovic), Jokanovic, Jugovic, Drulovic - Mijatovic (82. Kezman), Kovacevic (52. Milosevic) Slowenien: Dabanovic - Milanic, Galic, Milinovic - Novak, Ceh, Zahovic, Pavlin (74. Pavlovic), Karic (78. Osterc) - Udovic (64. Acimovic), RudonjaZuschauer: 20.000; Tore: 0:1 Zahovic (23.), 0:2 Pavlin (52.), 0:3 Zahovic (57.), 1:3 Milosevic (67.), 2:3 Drulovic (70.), 3:3 Milosevic (73.) Gelb-Rote Karte: Mihajlovic (60.)