Philanthropische Zauberin

„Ich bin eine jüdische Feministin“: Das sechste Jüdische Filmfest zeigt eine Dokumentation über die Literaturprofessorin und Mitbegründerin der israelischen Frauenbewegung, Alice Shalvi. Ein Porträt
von JENNI ZYLKA

Die Frau, die lächelnd und mit schlohweißem Haar auf einem Sofa sitzt und in vorbildlichem Oxford-Englisch spricht, scheint alterslos zu sein. Sie erzählt davon, dass sie gerade ihre Arbeit als Präsidentin des „Schechter Institute of Jewish Studies“ in Jerusalem aufgenommen hat, der bislang letzte in einer langen Reihe von Lehrberufen. Vorher hat Professor Alice Shalvi jahrelang die von ihr gegründete Jerusalemer „Experimentelle Religiöse Mädchenschule“ geleitet, davor war sie Uni-Professorin für englische Literatur. Promoviert hat sie in den Sechzigern über Shakespeare. „Ich hatte vier Kinder“ (später kamen noch zwei dazu), „und gewann bei einem Gewinnspiel für Mütter einen zehntägigen Urlaub. In diesen zehn Tagen habe ich den ersten Teil meiner Doktorarbeit geschrieben . . .“, erzählt sie lachend in Paula Weiman-Kelmans filmischem Porträt „Rites of passage. The spiritual journey of Alice Shalvi“.

Alice Shalvi ist eine Zauberin. Sie ist 74 Jahre alt und sieht aus wie eine Werbung für irgendwelche Verjüngungsmittel, die von innen wirken, so eine Art Ilja-Rogoff-Knoblauchpillen. Am Telefon in ihrer Wohnung in Jerusalem, während im Hintergund Enkelkinder krakeelen, versucht sie zu erklären, woher sie ihre unglaubliche Energie nimmt. „I am blessed“, sagt sie in ihrem schönen, akzentuierten Englisch, „ich habe eben Glück. Ich hatte immer viel Energie, mein Mann gibt mir auch sehr viel, aber vor allem habe ich die Arbeit, die ich machte, wirklich genossen.“

Das klingt fast zu einfach, um wahr zu sein. In dem Dokumentarfilm, der nicht durch Off-Kommentar, sondern durch Zwischentitel und Alice’ eigene Erklärungen das Bild zu vervollständigen sucht, wird Alice’ Leben nachgezeichnet. Von „the little refugee girl“ – sie musste mit sieben aus ihrer Geburtsstadt Essen mit ihren Eltern vor den Nazis nach England flüchten – über ein paar Kapitel „Educating Alice“, ihre Studienzeit in Cambridge, ihren Umzug nach Jerusalem, wo sie sich so wohl fühlte, dass sie blieb, bis hin zu ihrer jetzigen Position.

Als Jüdin, aber vor allem auch als Feministin. „I am a jewish feminist“, sagt sie und erzählt von ihrem Kampf um Anerkennung in der jüdisch-ortodoxen Kirche, die sich bis heute weigert, Frauen als Rabbis zuzulassen. Aber weniger orthodoxe Juden erlauben weibliche Rabbis, und zu Alice’ großem Bekannten- und Mitstreiterinnenkreis gehören natürlich auch ein paar.

Alice war in den Achtzigern Mitbegründerin der israelischen Frauenbewegung, deren feministisches Netzwerk jetzt eines der größten der Welt ist. „Damals haben alle gesagt: ‚Wogegen kämpft ihr? Wir haben doch schon die gleichen Rechte.‘ “ Aber Alice Shalvi kämpfte um gleiche Bezahlung, gleiche Behandlung von Frauen und natürlich um vollständige Anerkennung im religiösen Bereich. Sie erklärt die drei Säulen, auf die sich ihr Leben stützt: „Judentum, Feminismus und Zionismus.“ Zum 50. Jahrestag der Unabhängigkeit Israels hält sie eine Rede für Demokratie und Menschenrechte. Der Film zeigt sie beim Demonstrieren auf öffentlichen Plätzen, beim Diskutieren mit Polizisten. Aber streitbar kann man sie nicht nennen. Sie überzeugt vielleicht eher durch Güte: Der Polizist lässt Alice und ihre Mitstreiterinnen nach einem freundlichen Wortwechsel jedenfalls unbehelligt weitermachen. Sie scheint ein Mensch zu sein, der von jeher, ohne darüber nachzudenken, bereit war, für das Wohlergehen anderer zu arbeiten, soziale Belange zu vertreten.

„Mit elf wollte ich Philanthropin werden“, erzählt sie im Film, der immer wieder von charmanten, knisternden Super-8-Heimfilmen und schwarzweißen Fotos aufgelockert wird. „Ich wusste, das heißt Menschenfreund, und dachte, dass sei eine Art Sozialarbeiter.“ Ihren Mann lernte die Menschenfreundin in Jerusalem kennen, die Fotos im Film zeigen einen hübschen, hoch gewachsenen jungen Kerl mit cooler Sonnenbrille, und wieder war alles ziemlich schnell klar: „Ich sah ihn, er beachtete mich nicht, aber mir war klar, das ist der Mann, den ich heirate.“

Sie sind noch sehr glücklich, und bei ihrem nächsten Besuch in Deutschland wird ihr Mann sie begleiten. „Ich wäre nicht gekommen, wenn es nicht für das Filmfestival gewesen wäre. Ich hatte nie geplant, noch mal zurückzugehen“, erzählt Alice am Telefon. „Aber ich habe so viele schöne Dinge über Berlin gehört, dass es der richtige Zeitpunkt schien. Und jetzt, wo das Eis gebrochen ist, werde ich mit meinem Mann im Herbst nach Essen fahren, in meine Geburtsstadt.“

Am Ende des Films resümiert Alice das, was man vielleicht die erste Hälfte ihres Lebens nennen könnte. „Ich hätte vermutlich ein sehr langweiliges und bourgeoises Leben geführt, wenn ich nicht hierher nach Israel gekommen wäre.“ Hat sie aber nicht, im Gegenteil. Sie hat sich ihren Traum von der sozialarbeitenden Philanthropin erfüllt. Und dann singt sie fröhlich ein Lied: „You gotta have a dream . . .“

„Rites of Passage“, So., 19 Uhr, beim Jewish Film Festival im Arsenal,Potsdamer Straße 2, Potsdamer Platz.Zu Gast: Paula Weinman-Kelman undAlice Shavi

Zitat:„Mit elf wollte ich Philanthropin werden. Ich wusste, das heißt Menschenfreund, und dachte,das sei eine Art Sozialarbeiter.“