„Bizarre Vorstellungen“

Gespräch mit dem Fanbetreuer Michael Gabriel über Fußballanhänger und Gewalt, telefonisch geführt während des Fan-Matches Deutschland-England im berühmten Örtchen Waterloo

Interview BERND MÜLLENDER

Heute spielt Deutschland gegen England, in der Dutroux-Stadt Charleroi. Kommt es zur Orgie der Gewalt zwischen Fans, Hooligans, Rechten, Bürgern und Polizei, die seit Monaten vorhergesagt wird? Gestern Mittag war es so weit: Deutschland gegen England. Nein, nicht das allerorts befürchtete Randalematch (heute, 20 Uhr 45, ARD), sondern ein Freundschaftsspiel der Fans untereinander, organisiert von der Koordinationsstelle deutscher Fanprojekte. Die KOS, 1993 eingerichtet, finanziert von Verbänden, Städten und Bund, betreut bei großen Veranstaltungen (EM oder WM) die deutschen Fußballtouristen. Anruf am Spielfeldrand: Einer der acht deutschen Fanbetreuer bei der EM 2000 steht Rede und Antwort. Michael Gabriel (36) ist Diplom-Sportwissenschaftler.

taz: Deutschland gegen England in Charleroi, da steht ja angeblich das Grauen bevor. Symbolikgetränkt garnierte das ZDF den Vorbericht („Tore ohne Terror?“) mit Bildern vom gigantischen Friedhof in Waterloo unweit Charleroi. Ihr seid direkt im historischen Ort Waterloo.

Michael Gabriel: Ja, auf dem Platz des Racing Club Waterloo. Wir mussten hier hin, fast 50 Kilometer von Charleroi weg, weil der dortige Bürgermeister kein Spiel erlaubt hat, aus Sicherheitsgründen. Leider hat sich in seinem Kopf auch das falsche Bild festgesetzt, dass sich deutsche und englische Fans nur schlagen können. Was mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat: Es gab noch nie Probleme bei Länderspielen Deutschland-England. (Krach im Hintergrund) Das war der Ausgleich. 2:2 durch Gurke, unseren Cottbuser.

War es schwer, Spieler zu finden?

Gar nicht. Wir kennen ja viele Fans über die einzelnen Projekte in Deutschland. Hier sind Leute wie der Gurke, andere von Bayern und 1860 München, aus Frankfurt, sehr viele. Und zu den englischen Football-Supporters gibt es beste Beziehungen.

Was machen Betreuer noch bei der EM?

Bei der EM 1996 in England gab es in jeder Stadt die Fan-Botschaften mit sehr niedrigschwelligen Angeboten ...

... die gibt es doch in Belgien und Holland jetzt auch.

Es ist aber schwieriger geworden. In Lüttich war auch Polizei in diesen Treffpunkten dabei. Das schreckt nicht nur Hooligans, sondern auch Fans ab. In England gab es große Fan-Turniere, Konzerte, tolle Ausstellungen, Kneipenprojekte. England war bestens organisiert. Bei der WM 98 in Frankreich gab es überall Großbildleinwände. Jetzt gibt es nichts davon, aus Angst. Teilweise herrschen hier bizarre Vorstellungen, jenseits jeder Realität. Das ist nicht irreal, das ist schon surreal.

Es gibt den Vorwurf, Fanbetreuer führten ein Alibidasein.

Tja, wenn man bedenkt, dass 400 Millionen Mark in die Sicherheit gesteckt werden und in Prävention, Betreuung und Rahmenprogramm höchstens zwei Millionen ... Im Vorfeld gab es bei uns sehr kontroverse Diskussionen, ob wir überhaupt hinfahren. Und jetzt kriegt man kaum so ein Spiel hier hin.

Wer ist überhaupt Schiedsrichter: Napoleon, Wellington, ein Urenkel vom alten Blücher?

Ein Russe. Und ein Schweizer schiebt Dienst an der Linie. Weil wir gesagt haben, das ist die Revanche für Wembley 1966.

Ich höre einen Pfiff. Ist der Bachramow 2000 denn Herr seiner Sinne?

Es gibt nur wenige Fehlentscheidungen bis jetzt. Immer noch 2:2.

Ist der schöne Sozialarbeiter-Satz über unbetreute Fans richtig: „Nur wer Probleme hat, macht welche“?

Ja, aber was ich lieber formuliere: Fans müssen als Gäste empfangen werden. Und mit dem, was sie dem Fußball-Event geben, ernst genommen werden.

Aber wir haben alle die Gewaltszenen vor Augen. Wird Charleroi denn zum Horror? Die Polizei-Parole heißt „Null Toleranz“. 3.000 teils schwer bewaffnete Polizisten stehen bereit. Der Fanforscher Gunter Pilz hat Donnerstag noch gesagt: „Die Hooligans fühlen sich aufgewertet, wenn Polizei in großer Montur auftritt.“

Ich bin nicht sicher, ob die Polizei so vorgeht. In Lüttich waren sie sehr zurückhaltend, zum Glück. Wenn Freitagnacht gut verläuft, bleiben sie hoffentlich defensiv im Hintergrund. Das entspannt. Die Medien stricken an dem Bild mit. Seit Monaten. Das ist unverantwortlich.

Wird Gewalt herbeigeredet, weil es ein symbiotisches Verhältnis von Schlägern und Medien gibt? Die einen wollen Randale, die anderen spektakuläre Bilder?

Wenn ich Hooligan wäre, würde ich mich in meinem Sessel zurücklehnen. Die Weltpresse berichtet auch so über uns. Da brauche ich doch gar nicht mehr hin und mich hauen.

Und die rechte Szene in Charleroi?

Die gibt es wohl in der Tat. Wer es drauf anlegt, kann sicher was machen. Aber ich glaube, es wird wilde Gesangswettstreite im Stadion geben. Und es bleibt ruhig. Ein Pfiff! Bachramow! Jetztjetztjetzt. Gurke frei – vorbei!

Gurke scheint stark. Noch aufstiegsbeflügelt?

Es scheint so. Wieder ... schade. Die Engländer lassen nach. Nein, wir müssen nicht das Schlimmste befürchten. Weshalb denn! Die Bürger und Kneipiers von Charleroi haben sich jetzt zu einer Kampagne zusammengeschlossen, dass sie die Kneipen aufmachen wollen den ganzen Abend. Die Fans ohne Karte quasi einladen. Eine ausgezeichnete Idee. Für die, die nicht ins Stadion kommen, ist es wichtig, dass sie sich dazugehörig fühlen können, dass sie an diesem Event EM teilnehmen, an dieser Fußballmesse.

Jetzt hat aber ein Kneipier gesagt: „Wenn die Chaoten Krach veranstalten, kriegen sie es mit den Bürgern von Charleroi zu tun.“ Entsteht da eine neue Hooligan-Gruppe, die des südbelgischen Proletariats?

(lacht) Während der WM 98 habe ich ein Interview mit einem Manager von VW gelesen, da hat der über sein Erfolgsrezept gesagt: Lieber Hooligan als Muckefuck-Trinker. Wir sehen: Bis ins höchste Management wird der Begriff Hooligan ironisch hofiert. Und ernsthaft: Wenn wir über die Hintergründe von Gewaltbereitschaft reden, darf man nicht ausblenden, dass sie halt wächst. Dass im vergangenen Jahr mit Beteiligung Deutschlands ein Krieg geführt wurde. Das gehört auch zusammen.

P.S. Das Fan-Spiel endete 5:4 für Deutschland. Siegtor durch Dominik Wimmer (Fanclub „Die Chaoten“, 1860 München)