Warten und aus dem Fenster blicken

■ Der Bulgare Vladimir Georgiev gewinnt die Internationalen Hamburger Schachmeisterschaften

Seit über viereinhalb Stunden sitzen sich die beiden Männer nun schon gegenüber. Getrennt nur durch einen Tisch, soll sich heute erweisen, wer der Bessere von ihnen ist. Seinen Kopf auf einen Arm gestützt, blickt der eine scheinbar etwas gelangweilt in Richtung des geöffneten Fensters. Grund genug dafür hat er, denn sein Kontrahent denkt nun fast 30 Minuten über seinen nächsten Zug nach. Den Oberkörper weit vorgebeugt, als wolle er sich mit den auf dem Schachbrett verbliebenen Figuren unterhalten, studiert der moldawische Großmeister (GM) Dorian Rogozenko die Stellung. Nachdem ihm sein Gegner, der ukrainische Internationale Meister (IM) Michael Kopylov, die Abwicklung in ein Bauernendspiel angeboten hat, befindet sich die Partie in der entscheidenden Phase.

Auf einmal aber geht alles ganz schnell. Routiniert führen die beiden Spieler ohne längeres Nachdenken nun Zug um Zug aus, bis der König des Ukrainers patt gesetzt wird. Mit diesem Remis kann Rogozenko nicht zufrieden sein. Der Verlust des halben Punktes in dieser dritten Runde kostet den Turnierfavoriten vorerst die Zugehörigkeit zur Spitzengruppe.

Seit dem vergangenen Samstag spielten 31 Männer und eine Frau um die Internationale Hamburger Einzelmeisterschaft im Schach. Im Vereinsheim des Hamburger Schachklubs von 1830 traf dabei die hanseatische Schachelite mit neun ausländischen Titelträgern zusammen. „Ein halbes Jahr habe ich benötigt, um dieses Teilnehmerfeld zusammenzustellen“, sagt der Turnierorganisator Jürgen Kohlstedt, Mit insgesamt 20 Titelträgern ist es für eine Stadtmeisterschaft außerordentlich stark besetzt. Neben der Ehre gab es allerdings auch Geld zu gewinnen. Gut 8000 Mark betrug der vom Hamburger Schachverband bereitgestellte Preisfonds. Dem Spieler, der nach neun Partien die meisten Punkte eingefahren hatte, winkten dabei 3000 Mark.

Den Meisterpokal sowie den größten Teil des Preisgeldes nahmen die ausländischen Gäste entgegen. Hamburger Meister wurde in einem Herzschlagfinale der bulgarische IM Vladimir Georgiev, der das Feld seit der vierten Runde mit einem halben Punkt anführte. Seine Verlustpartie in der gestrigen letzten Runde sowie die Ergebnisse seiner Konkurrenz führten dazu, dass er die punktgleichen Rogozenko, Farago, Hector, Yemelin und Lanka nur nach der Feinwertung übertrumpfen konnte.

Enttäuschend verlief diese Meis-terschaft für Karsten Müller, dem einzigen deutschen Großmeister im Teilnehmerfeld. Mit zwei Remisen und nur einem Sieg gegen deutlich schwächere Konkurrenz begann er das Turnier sehr verhalten. Mit zwei weiteren Unentschieden und einem überzeugenden Sieg gegen den ungarischen GM Farago in der vierten Runde hielt sich Müller konstant im Verfolgerfeld auf. Im Spitzenduell der siebten Runde gegen Georgiev unterlag er mit den schwarzen Steinen erst nach sechsstündigem Kampf. Seine Verlustpartie in der achten Runde gegen den Schweden Hector ließ Müller weit in das Mittelfeld zurückfallen.

Die große Überraschung dieses Turniers war Hauke Reddmann. Der promovierte Chemiker besiegte den russischen GM Yemelin und vermochte gegen weitere fünf Großmeister remis zu spielen. Lediglich einmal musste sich der Hamburger bis zur achten Runde geschlagen geben. Durch einen einzigen groben Fehler verdarb er seine bis dahin gute Stellung gegen Rogozenko. Reddmann, der mit seiner hohen Stirn, dem wirr nach hinten zerzausten Haar und der schwarzen, stark geränderten Brille dem Klischee eines Schachspielers entspricht, hatte gute Chancen, sich damit die erste Norm für den Internationalen Meistertitel zu erspielen. Ein Remis in der letzten Runde hätte genügt. Vor der Partie übte sich Reddmann noch in Zurückhaltung. „In den letzten Jahren hat es auch oft gut angefangen, dann aber leider stark nachgelassen“, erklärte der 39-Jährige. Damit sollte er Recht behalten. Seine erneute Niederlage zum Abschluss des Turniers ließ ihn hauchdünn scheitern. Am Ende langte es immerhin noch für den 14. Platz. Frank Sommer