Zu wenig rote Karten

Friedenspreisträger diskutierten im Literaturhaus über den Krieg

Irgendetwas ist in die Hose gegangen. Sie redeten und redeten, erstens aber aneinander vorbei und zweitens nicht zum Thema. Der Zeit-Feuilletonist Gustav Seibt hatte letzten Freitag sichtlich Schwierigkeiten, seine vier Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels auf dem Podium im Literaturhaus zu disziplinieren. Dort saßen Marion Gräfin Dönhoff, der Schriftsteller und Ex-Kultusminister Spaniens Jorge Semprún, Wladyslav Bartoszewski, Historiker, Publizist und ehemaliger polnischer Außenminister, und der Theologe Friedrich Schorlemmer.

Die Frage sollte sein: Welche Rolle spielt die Form, in der Kriege erinnert werden, für das Selbstbild einer Gesellschaft, ihre nationale Identität. Zwei Tage lang haben die genannten Preisträger und jüngere deutsche Literaturautoren und Wissenschaftler zum Thema getagt. Die Ergebnisse der Werkstattgespräche sollten nun der Öffentlichkeit präsentiert werden.

Die Eingeladenen schienen sich aber nicht einmal einig zu sein, ob die Erinnerung an den Krieg, namentlich das „Leiden der Deutschen während des Zweiten Weltkriegs“, überhaupt von Belang sei. Einzig Friedrich Schorlemmer warnte vor einer Wiederkehr des Verdrängten, von dem nicht klar war, ob es überhaupt je verdrängt worden ist. Immer wieder wollte Seibt von der Zeitzeugin Dönhoff wissen, ob denn der Krieg nach ‚45 eigentlich tabu gewesen sei. Die aber wittert eine Falle, zumal sie ja selbst ohne Unterlass öffentlich Geschichten über die Vertreibung ihrer Familie aus dem Osten zum Besten gibt, und sagte statt dessen lieber Formeln von der Schuld der Deutschen auf. Semprún fand die „lange und tüchtige Trauerarbeit“ doch arg „deutsch“, und Barto-szewski bevorzugte es, ausschweifend und mit Emphase vom Leid der nicht-jüdischen polnischen Opfer des Kriegs zu sprechen.

Und so blieb es dem Tagungsteilnehmer Hans-Ulrich Treichel überlassen, aus dem Publikum he-raus die Sache auf den Punkt zu bringen. Die Kriegsleiden der Deutschen seien zwar vielfach von Politik und Wissenschaft aufgegriffen worden und insofern kein Tabu, aber „für die sinnliche Erfahrung verloren“. Weil Literatur anscheinend noch sinnlicher ist als Erfahrung ohnehin, hatte er jüngst den Roman Der Verlorene geschrieben, der sich der Vertreibung genannten Zurücktreibung der Deutschen nach Kriegsende und einem unterwegs verschollenen und für tot erklärten Bruder widmet.

Unausgesprochen hat die Veranstaltung so den Ball in einem Spiel gehalten, das letztes Jahr angepfiffen worden ist - durch die Veröffentlichung der Zürcher Poetikvorlesung des deutschen Schriftstellers W. G. Sebaldus unter dem Titel Luftkrieg und Literatur, in dem er zugleich behauptete und beklagte, die Bombardierung deutscher Städte sei in der Nachkriegsliteratur ohne Bedeutung gewesen. Dem Spiegel war das ein gefundenes Fressen, und die erste Halbzeit des Spiels entschied Suhrkamp für sich durch die inzwischen dreimal nachgedruckte Neuauflage des 50er-Jahre Bombenromans Die Vergeltung von Gert Ledig.

Für den kommenden Herbst hat Suhrkamp eine Neuauflage von Liebigs Erstling Die Stalinorgel angekündigt. In bekannter Debattenmanier werden dann die deutschen Feuilletons auch wieder revisionistischeren als den am Freitag laut gewordenen Tönen ein Forum bieten; domestiziert durch behutsames Einsperren zwischen Pros und Contras, versteht sich, versehen mit einem Riegel aus Schuldbeteuerungen.

Christiane Müller-Lobeck