Deutschland, Deutschland, alles ist vorbei

Egal ob in der Szenekneipe Absinth oder im Irish Pub: In Prenzlauer Berg jubeln die Fußballfans den Engländern zu

Von Menschentrauben umlagerte Fernseher stehen auf dem Gehsteig in der Kastanienallee und im äthiopischen Spezialitätenrestaurant in der Lychener Straße. Am Samstagabend haben sich Kneipen, Cafés, Pubs und Biergärten mit TV, Großbildleinwand und Beamer für das Europameisterschafts-Vorrundenspiel Deutschland-England gerüstet. Nur das punklastige Straßenfest am Helmholtzplatz scheint EM-freie Zone zu sein.

Während der Prenzlauer Berg in einen güldenen Sonnenuntergang eintaucht, füllen 150 junge Szenegänger und ein Hund das schummrige Café Absinth in der Dunckerstraße bis auf den letzten Platz. Rollstuhlfahrer Roland, 25, ist eigentlich Energie-Cottbus-Fan. Heute Abend jubelt er hier für England – schon aus Protest: „Irgend jemand muss doch das Gegengewicht bilden. Hier sind doch eh alle für Deutschland.“ Dass sich der Enthusiasmus im Absinth in Grenzen hält, liegt nicht nur an einer schwachen ersten Halbzeit. „Man muss schon eine Ader dafür haben, Fernseh-Fußball richtig zu zelebrieren“, sagt Rolands Kumpel Friedemann. „Aber“, meint der 24-jährige Prenzlberger, „einem deutschen Fan hängt man gleich Deutschtümelei an. Deshalb wird sehr vorsichtig gejubelt.“ Die 21-jährige Ursel will vor allem „ein Gemeinschaftsgefühl vor der Glotze“ erleben. „Big Brother ist schließlich vorbei.“

Im Irish Pub „The Cliffs of Dunnen“ am Kollwitzplatz sitzt Gunnar Haffer vor seinem Laptop. Der Programmierer hat seine eigene Tipp-Software mitgebracht, wer will, steigt mit fünf Mark ein. Doch als „Fan“ versteht sich das Hertha-Mitglied nicht. „Das Wort assoziiert man inzwischen schon automatisch mit Fanatismus und Gewalt.“ Während die Fußballgucker im Absinth das englische 1:0 zur Kenntnis nehmen, jagt dieselbe 53. Minute viele der rund 100 Fußball-Enthusiasten im Pub von den Stühlen. Ausgelassen wird das Tor begossen, auch wenn kaum Engländer hier sind. Fröhlich singt die Berliner Fangemeinde in roten Trikots ihr „Deutschland, Deutschland – alles ist vorbei.“

„Ich muss keine Angst haben, in einer deutschen Kneipe zu sitzen und gegen die deutsche Mannschaft zu sein“, sagt der Südafrikaner Ian Jennings, der mit Freunden hier ist. „Das ist viel entspannter als bei uns, wo die Fans bei Sportveranstaltungen ihrem Patriotismus freien Lauf lassen.“

„Nur eine Holländerin hat richtig getippt“ – Gunnar Haffer blickt auf den Monitor seines Computers. Der 34-Jährige, am Tag des umstrittenen englischen Wembley-Sieges 1966 geboren, hatte wie die meisten auf Erich Ribbecks Team gesetzt. An das „Wunder“ beim Spiel Deutschland-Portugal am Dienstag glaubt er nun nicht mehr.

CHRISTOPH RASCH