„Diese Charta brauchen wir“

Jo Leinen, Mitglied des Grundrechtskonvents: „Europa leidet an mangelnder Akzeptanz durch die Bürger. Diese Lücke kann nur durch eine Verfassung geschlossen werden“

taz: Herr Leinen, Sie sitzen im Grundrechtskonvent, sind aber auch Berichterstatter für die Regierungskonferenz, die die Institutionen der EU für die Erweiterung reformieren will. Wo geht es denn rascher voran?

Jo Leinen: Ich würde sagen, beim Konvent. Die Vertreter auf der Regierungskonferenz haben vier Monate damit vertan, auf ihren Ausgangspositionen zu beharren. Da geht es um Machtpositionen, nicht um die Sache.

Kann es auch daran liegen, dass die Grundrechtscharta eben nur aus ein paar netten Worten besteht, während institutionelle Reformen bedeuten, dass die Nationalstaaten wirklich Kompetenzen abgeben müssten?

Das könnte man meinen. Aber die Frage der Verbindlichkeit haben wir ausdiskutiert. Eine große Mehrheit des Konvents will die Charta zum Bestandteil des nächsten Vertrags machen.

Wo verlaufen denn die Konfliktlinien innerhalb des Konvents?

Die Engländer und Skandinavier haben nach wie vor ein Problem mit einer geschriebenen Charta, weil sie ihrer politischen Kultur fremd ist. Alle Regierungsvertreter wollen noch immer lieber eine Proklamation als eine verbindliche Verfassung. Die links eingestellten Konventsmitglieder wollen die sozialen und wirtschaftlichen Rechte wie zum Beispiel das Recht auf Wohnraum verbindlich festschreiben, die Konservativen nur die bürgerlichen Grundrechte. Der Widerstand gegen eine rechtsverbindliche Form nimmt aber in dem Maß ab, wie die Formulierungen konkreter werden.

Außenminister Fischer hat sich letzte Woche mit französischen Parlamentariern getroffen. Die waren ganz allergisch gegen das Wort „Konstitution“ – haben die Franzosen auch im Konvent Vorbehalte?

Die Franzosen arbeiten sehr engagiert mit. Schließlich war es eine Folge der Französischen Revolution, dass die Menschenrechte Verfassungsrang erhielten. Gerne würden sie diese universelle Leistung unter ihrer Präsidentschaft auf die europäische Ebene heben. Eine „Konstitution“ ist für sie zwar Sache des Nationalstaats – aber man kann die Charta doch in den Vertrag von Nizza aufnehmen, ohne laut zu sagen, dass es der Beginn einer Europäischen Verfassung ist.

Ein Vertrag von Nizza inklusive Grundrechte-Katalog – ist das denn überhaupt realistisch?

Das ist zu schaffen! Wenn wir einen klaren, verständlichen Text abliefern, der mit qualifizierter Mehrheit im Konvent beschlossen wurde, dann hat er mehr Legitimation als das, was Regierungsvertreter in der Nacht der langen Messer hinter verschlossenen Türen auskungeln.

Wie groß sind die Chancen?

Bei der letzten Sitzung war die Stimmung sehr schlecht. Wir haben nur zwei Artikel geschafft. Nicht einmal bei der Frage, was die Würde des Menschen sei, sind alle einer Meinung. Auch Arti- kel 2 war komplizierter, als man denken sollte – wie weit geht das Recht auf Leben? Aber am Ende werden alle wissen – gerade die beteiligten Regierungsvertreter –, dass wir diese Charta dringend brauchen. Europa leidet an mangelnder Akzeptanz durch die Bürger. Diese Lücke kann nur durch eine legitimierte Verfassung geschlossen werden.

INTERVIEW: D. WEINGÄRTNER