: Gib mir das Kindbettfieber
Andreas Kriegenburg inszeniert Gerhart Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang“ am DT
von PETRA KOHSE
Bei der Uraufführung von Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang“ 1889 im Berliner Lessing-Theater zückte im fünften Akt ein Arzt im Publikum plötzlich eine Geburtszange, schwang sie über dem Kopfe und rief: „Sind wir denn in einem Bordell?“ Dabei war von den Wehen, die laut Buch hinter der Bühne erlitten wurden, vorn kein Mucks zu hören. Dass von „Kindbettangelegenheiten“ überhaupt die Rede war, reichte damals. Das war die Geburtsstunde des Naturalismus in Deutschland.
111 Jahre später kann sich am Deutschen Theater und unter der Regie von Andreas Kriegenburg Franziska Hayner als alkoholsüchtige Gebärende mit verschmiertem Lippenstift, wirren Haaren und entgleisten Zügen immer wieder keuchend zur Rampe schleppen und dort unter Wehen schreiend zusammenbrechen, ohne dass man die Szene als realistisch empfände. Im Gegenteil wirken ihre Auftritte von Anfang an als das fremdartigste Element dieser Inszenierung. Der Rest ist Stilisierung und Genre, ist tumbe Zartheit und komische Verzweiflung, ist Kabarett, Kasperle und Kammerspiel.
„Vor Sonnenaufgang“ ist ein soziales Drama und als solches fest geschnürt: Es geht um Sozialistenverfolgung, Alkoholismus, Vererbungslehre, sexuellen Missbrauch, Inzest und die Ausbeutung von Arbeitern. Der fanatische Abstinenzler und Sozialreformer Alfred Loth reist in eine Gegend, in der die Bauern durch Kohlefunde zu Geld gekommen sind, um die Verhältnisse in den Schächten zu recherchieren. Zunächst aber recherchiert er unfreiwillig den Demoralisiertheitsgrad der Goldbauern und wendet sich mit Grausen ab, als er erfährt, dass auch die Bauerntochter Helene, in die er sich verliebt, aus einer Familie kommt, in der schon Dreijährige an Alkoholismus sterben.
Eine etwas hysterische Angelegenheit also, deren volkswirtschaftliche Aspekte Kriegenburg erwartungsgemäß nicht interessieren. Er, der seit Jahren nicht mehr in Berlin gearbeitet hat und jetzt am Wiener Burgtheater engagiert ist, hat stets das Allgemein- und Zwischenmenschliche im Blick. Noch das größte Glück ist in seinen Arbeiten von der melancholischen Gewissheit seiner Endlichkeit umgeben, die entsetzlichste Einsamkeit vom komischen Gewahrwerden all der Einsamkeiten nebenan. Auch das Ideendrama „Vor Sonnenaufgang“ hat Kriegenburg in dieser freundlich-relativierenden Weise betrachtet. Was dabei vom Tage übrig blieb, ist ein Typenkabinett mit Schmonzettencharme.
Erde liegt auf dem Boden der Bauernstube von Johanna Pfau, die Wände aber sind blutrot und mehrere Meter hoch, mit quadratischen Durchgängen nach allen Seiten, ohne dass man ein Draußen sähe. Halb Burg, halb Puppentheater, in dem sich grotesk ausgepolstert und mit vielerlei stummfilmhaften Stilisierungen das Hausleben gleichzeitig entfaltet und immer wieder melancholisch überspielt wird von der akkordeongestützten Musik von Laurent Simonetti.
Das Ensemble des Deutschen Theaters, das Derartiges wohl ebenso wenig gewohnt ist wie die umgangssprachliche Aufarbeitung und Aufbrechung des Textes, zeigte sich überraschend beweglich, komisch und leichtfüßig. Besonders Claudia Geisler als Helene, die sich Loth an den Hals wirft, ist hinreißend in ihrer spätmädchenhaften Intelligenz und ungelenken Zartheit. Idealtypisch passt zu ihr Bernd Stempel, wie immer selbstgerecht verklemmt als Biedermann Loth. Ein Paar wie Evelyn Hamann und Loriot, das – Preis der Leichtigkeit – offenbar in Vergessenheit geraten lassen will, wie keineswegs tragisch-komisch, sondern feige und verbohrt dieses Verhältnis bei Hauptmann endet.
Tatsächlich richtet der Regisseur auch noch sein besonderes Mitleid auf Loth, wenn er in einer Puppenspielszene zusätzlich betont, wie schwer es dem Armen fällt, sich Helene aus dem Kopf zu schlagen, bevor er sie dann sitzen lässt. So gerne man sich mit Kriegenburg vom Stück entfernt – hier geht er zu weit in den Kitsch hinein. Wenn alles nett sein soll, ist nichts gewesen. In diesem Zusammenhang erklärt sich auch das Unbotmäßige an der Erscheinung der Schwangeren. Die Fremdartigkeit ihrer realistisch gespielten, aber nicht realistisch wirkenden körperlichen Entgleistheit markiert offenbar die Grenzen des Kriegenburgschen Kosmos. Komisch nämlich ist das Unglück nur in der wohl konturierten Möglichkeitsform. Im Dekor.
Nächste Aufführung am 26. Juni,19.30 Uhr, Deutsches Theater,Schumannstraße 13 a
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