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: WLADIMIR KAMINER über anarchistische Lesungen

Wassil Bikau im Klub Dialog

Neulich kam mein Freund und Kollege Helmut Höge zu mir: „Du weißt, Wladimir“, sagte er, „dass ich mich seit langer Zeit für Partisanen aller Art interessiere. Der weißrussische Schriftsteller Wassil Bikau trifft sich heute Abend mit seinen Lesern im Klub Dialog e. V. Er schreibt seit 60 Jahren über nichts anderes als Krieg und Partisanen.“

Wir tranken schnell einen Wodka und gingen hin. Im Klub saßen etwa zwei Dutzend Veteranen – alles Emigranten aus Russland, Helmut war anscheinend der einzige Deutsche. Dann erschien auch der Schriftsteller, begleitet vom coolsten Dolmetscher Berlins, Herrn Gladkich, der, wie gewöhnlich, voll war. „Guten Abend“, sagte der Schriftsteller. „Halli-hallo“, übersetzte der Übersetzer.

„Ich möchte Ihnen einen Ausschnitt aus meiner neuen Erzählung vorlesen“, fuhr der Schriftsteller fort, „sie geht so: ‚In der Kaserne roch es stark nach verfaulten Fußlappen und verbranntem Grießbrei. Aus der Ferne hörte man die Schreie der Soldaten und das Knattern der Maschinengewehre.‘ Und so weiter und sofort.“ Er schloss das Buch und lehnte sich zurück. „War's das?“, fragte ein Zuhörer. „Nicht ganz“, erwiderte der Übersetzer. „Ich werde einen anderen Text von Bikau auf Deutsch vorlesen, und der geht so . . .“ „Aber erlauben Sie“, regten sich drei Zuschauer auf, „wieso denn einen anderen Text und noch dazu auf Deutsch? Hier sind doch gar keine Deutschen.“

„Meinetwegen brauchen Sie das nicht zu tun!“, rief Helmut. Keiner der Russen verstand ihn, aber der Übersetzer. „Aha!“, freute er sich, „seht ihr, es gibt doch Deutsche im Saal, und nun werde ich einen anderen Text vorlesen, weil der erste noch gar nicht übersetzt wurde.“ „Halten Sie die Klappe, wir wollen dem Schriftsteller Fragen stellen und keine Texte auf Deutsch hören“, rebellierte jemand. Der Übersetzer war beleidigt: „Fickt mich alle ins Knie, ich werde trotzdem alles übersetzen!“

„Ich mag nicht reden“, sagte plötzlich der alte Schriftsteller. „Halt’s Maul“, rebellierte das Publikum, „wir haben 10 Mark bezahlt – nun musst du uns was erzählen!“ Eine alte Frau fragte: „Herr Bikau, in Ihrem Buch ‚Die Wiederauferstehung‘ beschreiben Sie den ewigen Kampf zwischen Gut und Böse . . .“ „Das Buch hat er gar nicht geschrieben, das ist von Astafjew“, brüllte das Publikum, „setz dich wieder hin, alte Kuh!“ Zwei Männer zerrten die Frau am Rock. „Ihr könnt mich alle mal“, rief sie, „ich möchte trotzdem etwas fragen, was mich sehr beschäftigt: Was, meinen Sie, war zuerst da – das Gute oder das Böse?“ „Herr Bikau, in Ihrem Buch ‚Die Wiederauferstehung‘, das sie gar nicht geschrieben haben, behandeln sie die Frage, was ist böse, was ist gut“, übersetzte der Übersetzer. „Ja“, sagte Bikau. „Sie haben völlig Recht. Auch in meinen Büchern kommt manchmal das Böse vor und auch das Gute.“ Dann lehnte er sich zurück.

„Sie haben meine Frage gar nicht beantwortet!“, rief die Frau. „Sie haben ihre Frage nicht . . .“, wiederholte der Übersetzer. „Habe ich doch“, widersprach Bikau. „Hat er“, sagte der Übersetzer. „Hat er nicht“, sagte die Frau. „Ich bin der Meinung, dass ich die Frage beantwortet habe“, insistierte der Schriftsteller. „Lasst uns höflich zueinander sein“, riet ein Zuhörer. „Ich übersetze das gleich“, sagte der Übersetzer und ging aufs Klo. Er nahm das Mikrofon mit, um sicher zu sein, dass in seiner Abwesenheit nicht geredet wurde.

„Gibt es noch Fragen?“, fragte Bikau. „Was halten Sie von der Auflösung der Sowjetunion? Sehen Sie für die Vereinigung zwischen Russland und Weißrussland noch Chancen?“, fragte jemand. Der Schriftsteller überlegte kurz. „Man kann alles mögliche zerteilen“, sagte er. „Und alles mögliche wieder zusammensetzen. So ist das Leben“, fügte er nach einer langen Pause hinzu. „Sie haben meine Frage nicht beantwortet!“, rief der Mann. „Habe ich doch“, sagte Bikau. „Ihr Schweine“, rief der Übersetzer, der gerade vom Klo zurückkam. „Ihr habt ohne mich geredet! Wie soll ich das übersetzen!“

„Bleiben Sie still“, rief eine Frau, „unser Gast ist eingeschlafen!“ Der Schriftsteller schnarchte friedlich. Die Leute gingen auf Zehenspitzen, um den Titan der Nachkriegsliteratur nicht zu wecken. Er mag ein schwieriger Mensch sein, aber er ist ein wunderbarer Autor. „So sind sie also, die russischen Partisanen“, sagte Helmut zu mir. „So sind sie“, bestätigte ich.