Das tödliche Risiko der Migranten

Millionen von Menschen leben illegal in Europa: Auf der Schattenseite der Gesellschaft, gleichermaßen bedroht von Unterwelt und Ordnungshütern

von DOMINIC JOHNSON

Genaue Zahlen kennt keiner. Das liegt in der Natur der Sache. Jedenfalls gibt es in Europa eine unstet lebende Bevölkerung nicht unbeträchtlicher Größe auf der Schattenseite der Gesellschaft: Migranten. Illegal, am Rand der Legalität oder mit unsicheren, widerrufbaren Rechten. Bis zu 4,5 Millionen reichen die Schätzungen der Personen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus allein für Deutschland. Ähnlich hoch und vage sind die Vermutungen für Großbritannien, Frankreich und Italien.

Die gesicherten Zahlen sind überschaubarer. 80.000 Menschen haben sich dieses Jahr in Spanien nach einem Regierungsaufruf zur Legalisierung gemeldet, 150.000 waren es 1998 in Frankreich, 250.000 in Italien, 370.000 jetzt in Griechenland. Von solchen Massenlegalisierungen profitierten zwischen 1996 und 1998 in Frankreich, Italien, Spanien und Portugal insgesamt 237.400 Menschen.

Illegale Einwanderung nach Europa stellt ein wachsendes Problem dar – vor allem für die Einwanderer. Sie allein tragen die Risiken und die Kosten und beide steigen. 10.000 Dollar (20.000 Mark) gilt als günstiger Preis für die illegale Migration aus China nach Deutschland; ähnlich hoch ist der Preis aus dem Iran, für Afghanistan liegt er bei bis zu 12.000 Dollar. Das ist viel, aber nicht viel mehr als eine von mehreren Polizeibeamten begleitete Abschiebung in ein fernes Entwicklungsland.

Vor dem Berliner Verwaltungsgericht wurde im Oktober 1999 die Struktur der organisierten illegalen Migration laut Protokoll so dargestellt: „Man benötige die Hilfe eines Schleppers, wenn man mit falschen Papieren oder einer anderen Identität ausreisen wolle. Die Schlepperorganisationen würden die Leute in großer Anzahl entweder auf dem Land- oder Seeweg transportieren. Die Schlepper würden an bestimmten Punkten eine große Gruppe sammeln und sie in Lkws oder auf Schiffe stopfen.“ „Schlepper“ sind dabei oft weniger ominöse Mafiabanden als Beamte in Schlüsselstellen, die die Grenzformalitäten überwinden helfen und Dokumente ausstellen. Dies gilt vor allem für autoritär regierte Länder. In China machte die französische Zeitung Le Monde unlängst die zentrale Rolle gewisser Funktionäre aus, die gegen horrende Zahlungen Ausreisen organisierten. Über die chinesischen Botschaften im Ausland, die enge Kontakte zur halb legalen Diaspora knüpften, sei die Kontrolle auch nach der Emigration gewährleistet.

Die Hauptroute der Einwanderung nach Europa verläuft aus Asien oder Afrika in die Türkei, von dort nach Moskau und dann über Weißrussland, Litauen und Polen nach Deutschland. Varianten enden in Skandinavien oder verlaufen über Tschechien. Eine Südroute geht über die Türkei übers Meer nach Albanien und von dort nach Italien. Und es gibt Direktrouten aus Afrika über die Maghreb-Staaten nach Spanien und Italien.

Vor allem die Seerouten über die Adria oder die Meerenge von Gibraltar gelten als äußerst gefährlich. Viele ertrinken, und wegen der immer schärferen Kontrollen weichen Schlepper oft auf entlegene Inseln aus, wo sie ihre ahnungslosen Passagiere absetzen: Immer mehr illegale Einwanderer werden in letzter Zeit auf Zypern und den Kanarischen Inseln entdeckt.

Die immer restriktivere Einwanderungspolitik der EU-Staaten zwingt Migranten in diese Illegalität, so die gängige Kritik von Einwanderer- und Flüchtlingsgruppen. „Während die westliche Gesellschaft sich zunehmend Sorge über internationale Verbrechernetzwerke macht“, so der britische Flüchtlingsrat, „bedeutet die Durchsetzung der Festung Europa, dass solche Netzwerke vielleicht die einzige Lebenslinie für verzweifelte Flüchtlinge sind.“

Seit der österreichischen EU-Präsidentschaft von 1998 ist „null Toleranz“ die Leitlinie der Union. Ende 1999 beschloss die EU bei einem Gipfel im finnischen Tampere, bis Ende dieses Jahres eine gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik zu erarbeiten. Es geht dabei immer um die Bekämpfung des „Schlepperunwesens“ als Spielart des organisierten Verbrechens. Man will Flüchtlinge und Migranten dem Zugriff ihrer Schlepper entziehen, um den vermuteten Menschenhandel unattraktiv zu machen und damit auszutrocknen.

Aus diesem Grund wird immer mehr Flüchtlingen nur noch Sachleistungen statt Bargeld gezahlt – damit können sie ihre Reiseschulden nicht begleichen. Aus demselben Grund werden immer öfter aufgegriffene Illegale, die dann Asyl beantragen, in überwachten Lagern untergebracht – so können sie nicht in der Schattenwirtschaft untertauchen.

Ein weiteres Element der EU-Abschottungspolitik besteht darin, die Grenzen der „Festung Europa“ weiter nach außen zu verlagern. Die EU-Beitrittskandidaten in Osteuropa sind längst dabei, mögliche Migranten auf dem Weg nach Westen gar nicht erst einreisen zu lassen. Inzwischen werden sogar ehemalige Sowjetrepubliken und die Staaten Nordafrikas angehalten, ihre Grenzkontrollen zu verschärfen. In Zukunft sollen die illegalen Migrationsversuche in der Steppe Kasachstans oder in der Sahara enden.