Alles ist das, was es ist

Bürgerkind, Skeptiker, Ideengeschichtler: Für Isaiah Berlin blieben seine jüdische Herkunft und die Migration Beleg der Zerrissenheit des Menschen. Michael Ignatieffs Berlin-Biografie liest sich indessen wie eine kunstvoll verschlungene Erzählung

von ELKE SCHMITTER

Ein kleiner Junge stand in Petrograd am Fenster und schaute hinaus. Große Schilder aus Sperrholz schwankten über den Köpfen der Menschen auf und nieder, die durch die breiten Straßen ins Zentrum strömten. Auf den Schildern stand „Alle macht der Duma“, „Nieder mit dem Zaren“, „Land und Freiheit“ und „Schluss mit dem Krieg“. „Als die ersten Soldaten, zu einem Kordon formiert, gegen die Menschenmenge vorrückten, wich diese nicht. Die Reihe der Uniformierten geriet ins Wanken, dann löste sie sich auf, und die Demonstranten und die Soldaten vermischten sich, sie warfen ihre Mützen in die Luft, sangen die Marseillaise auf Russisch, verbrüderten sich und zogen gemeinsam über die New-Brücken zum Platz vor dem Winterpalast.“ Der kleine Junge durfte nun auf die Straße, mit seinem Kindermädchen. Die Menschenmenge war weitergezogen, die Straße beinahe leer, als ein Trupp Männer an ihnen vorbeizog, mit einem angsterfüllten Gefangenen in ihrer Mitte. Es war einer der letzten zarentreuen Polizisten, der da abgeführt wurde. „Alles, was der Siebenjährige in der Kürze der Zeit sehen konnte, war ein Mann mit einem kalkweißen Gesicht, das vor Angst zuckte. Der Kleine konnte nicht wissen, wohin man den Polizisten brachte, aber sogar er spürte, dass er nicht mit dem Leben davonkommen würde.“

Der kleine Junge heißt Isaiah Berlin, in Riga geboren, in Russland aufgewachsen und noch während der Revolution mit seiner Familie nach England emigriert, wo er sein Leben verbrachte. Er wurde der bekannteste Ideengeschichtler des 20. Jahrhunderts: einflussreich, geadelt, von vielen Seiten gerühmt und doch Zeit seines Lebens ein Einzelner. Ein Jude, der viele seiner Familie im Holocaust verlor, ein englischer Professor mit Akzent, ein Lette, dessen Muttersprachen Russisch und Deutsch waren. Der Verlust der Heimat war für ihn kein tragisches Ereignis, aber doch Motiv, ebenjene Fähigkeiten auszubilden, die für sein Fach von Bedeutung sind: eine präzise Beobachtungsgabe, Intellektuelle und psychische Unabhängigkeit und ein Interesse an Verknüpfungen – von Ideen mit sozialen Bewegungen, historischen Prozessen und gesellschaftlichen Bedingungen.

Fremde Lebensweisen

Die Tatsache, dass er Jude war, grundiert dieses Interesse mit trauriger Notwendigkeit: Ein Jude in einer nichtjüdischen Gesellschaft, schrieb er, sei Anthropologe in einem Eingeborenenstamm, ein größerer Experte für Lebensweisen als die Eingeborenen selbst. Daher die „phantastische Überentwicklung der Fähigkeit der Juden, Trends auszumachen und die subtilsten Schattierungen und Tönungen sich wandelnder individueller und gesellschaftlicher Situationen zu erkennen, und zwar oft bevor sie anderso wahrgenommen werden.“ Sein eigener, auch gesellschaftlicher Erfolg ist seinem Ehrgeiz und dieser von ihm beschriebenen Fähigkeit zu verdanken, aber vermutlich auch seinem doppelten Interesse an Konventionen, die er als human, nicht repressiv versteht: „Konvention bedeutet nicht an sich Sklaverei; sie ist zu einem großen Teil jenes instinktive Gesetz, das sich aus der Furcht des Menschen vor Anarchie ergibt, Anarchie, die ebenso weit von Freiheit entfernt ist wie Tyrannei. In dieser Funktion ist Konvention oft ein Schutz der inneren Freiheit, da sie umfassende externe disziplinarische Gleichheit schafft, welche Raum für vollständige innere Nonkonformität lässt. Es tut keinem Menschen weh, wenn er weiß, dass Konformität nur eine Umgangsform, eine Art universeller Etikette ist.“

Man sieht: Hier spricht kein Linker – obwohl Isaiah Berlin zeitlebens immer mal wieder der reformorientierten Linken zugerechnet wurde. Hier spricht ein Skeptiker, wie schon Montaigne, oder Berlins deutscher Bruder im Geiste Odo Marquard, der das hohe Lob der Üblichkeit singt. Es ist das Neue, das sich dem Skeptiker erst als das Bessere beweisen muss, und nicht das Hergebrachte, das einer selbstverständlichen Kritik verfiele. Und auch in seiner starken Ablehnung des sozialen Ingenieursgedankens war Berlin ein Feind der Linken; gegen die Identifizierung von Politik mit Wissenschaft, gegen das soziale Rechthaben mit Hilfe von Einsichten höherer kategorialer Ordnung hat er immer neu argumentiert. Er war ein Mann des Liberalismus, neugierig, inspiriert vom Glauben an das bessere Argument und zutiefst misstrauisch gegen eine Intelligenz, welche die wahren Interessen von den unwahren trennt und im Namen der wahren Enteignungspolitik betreibt. „Dies ist eines der stärksten und gefährlichsten Argumente in der ganzen Geschichte menschlichen Denkens. Lassen sie uns die einzelnen Schritte verfolgen. Das objektiv Gute kann nur mit Hilfe der Vernunft entdeckt werden; es anderen aufzudrängen bedeutet nur, die in ihnen schlafende Vernunft zu erwecken; andere zu befreien bedeutet, nur das für sie zu tun, was sie, wenn sie rational zu denken verstünden, für sich selbst tun würden, wobei es keine Rolle spielt, was sie selbst zu wünschen angeben; daher sind einige Formen des allergewaltsamsten Zwanges gleichbedeutend mit allerhöchster Freiheit.“

Berlin war davon überzeugt, dass Politik mit dem auskommen müsse, was Menschen als ihre Interessen artikulieren. Seine analytische Kraft richtete er auf Ideen als historische Erscheinungen, nicht auf Ideologien. Er kam zu dem pluralistischen Schluss, dass Ideen, Werte und politische Systeme historisch und widersprüchlich sind und dass es ein Trugschluss der Aufklärung sei, nach der besten Gesellschaftsform für alle zu suchen. Er glaubte nicht an eine verbindliche anthropologische Substanz, aus der man ideale Lebensbedingungen ableiten könne: Alle Menschen essen, lieben, arbeiten und bestatten ihre Toten, aber wie sie das tun, ist von Konventionen abhängig, die nicht von höherer Warte aus beurteilt werden könnten.

Freiheit ohne Gleichheit

Seine fundamentale Überzeugung war, dass Menschen an und für sich zerrissen, inkonsistent und konfliktbeladen sind, nicht per se politische Wesen und häufig zwischen öffentlichen und privaten Ansprüchen, zwischen Vernunft und Gefühl und einander widersprechenden Werten lavierend. Er hielt die leitende Idee auch der sozialdemokratischen Linken, dass Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit gleichermaßen und gleichzeitig zu verwirklichen seien, selbst für eine Ideologie: „Alles ist das, was es ist: Freiheit ist Freiheit, nicht Gleichheit oder Fairness oder Gerechtigkeit oder Kultur oder menschliches Glück oder ein ruhiges Gewissen. Wenn die Freiheit meiner Person oder meiner Klasse oder meiner Nation vom Elend einer Zahl anderer menschlicher Wesen abhängt, dann ist das System, welches diesem Vorschub leistet, ungerecht und unmoralisch. Doch (...) man bringt unterschiedliche Werte durcheinander, wenn man sagt, dass zwar meine ‚liberale‘ individuelle Freiheit über Bord geht, dafür aber eine andere Art von Freiheit – soziale oder ökonomische – vergrößert wird.“

Ein Pluralist, ein Liberaler, ein Guru des akademischen Betriebs: Und doch war Isaiah Berlin auch einer, dem immer wieder unmittelbare politische Verantwortung angetragen wurde. Großbritannien sandte ihn 1941 als politischen Beobachter nach New York, er sollte dort für den Kriegseintritt der USA werben; 1950 bot ihm Ben Gurion das israelische Außenministerium an; in der McCarthy-Ära geriet er zwischen die Fronten und bedauerte später, sich nicht klarer zu Gunsten seiner linken Freunde verhalten zu haben. Persönliches politisches Engagement bedeutete ihm wenig; Erschütterungen pflegte er lieber aus dem Weg zu gehen. (Die Karriere des Nationalsozialismus hat ihn vielleicht als Person, aber als Denker nicht beschäftigt.)

Erschütternder Mut

Einer legendären Begegnung – Isaiah Berlin besuchte 1945 Anna Achmatowa in Leningrad – widmet Ignatieff womöglich auch deshalb so viel Raum, weil sie eine der wenigen Erschütterungen des Erwachsenen bedeutete: Sein Leben lang sollte Berlin die Dichterin als Maßstab persönlichen Muts und ideologieresistenter Intelligenz in Erinnerung behalten, und die vertraulichen Gespräche mit dem gebrochenen, angsterfüllten Boris Pasternak im selben Herbst verschärften seinen versuchungsfreien Antikommunismus.

Es ist besonders beeindruckend, mit welcher intellektuellen Distanz und persönlichen Anteilnahme der politische Essayist (und Romanautor) Michael Ignatieff die Überzeugungen und Argumentationen Isaiah Berlins referiert. Seine Biografie ist ein wahres Meisterstück dieses Genres – historisch informativ, äußerst anschaulich erzählt, von gelungener Dramaturgie und in diskreter Weise kunstvoll, insofern er die Entwicklung einer Person wie eines Intellekts verknüpfend schildert, ohne zu romantisieren oder zu verflachen. Berlin war in den Fragen, die ihn beschäftigten, eine Person der Zeitgeschichte des vergangenen Jahrhunderts, ihren Konstellationen verhaftet und als Intellektueller eher reaktiv als systematisch. Wirtschaft, Ökologie und Psychologie interessierten ihn nicht, mit soziologischen und anthropologischen Forschungen setzte er sich kaum auseinander, die Ideologiekritik der Linken hielt er im Wesentlichen für ornamentale Rechthaberei. Sein zu Lebzeiten erschienenes Werk ist eher schmal, sogar ein enger Freund spöttelte: „Wie unser Herr und Sokrates veröffentlicht er nicht viel.“

Dass die umfangreiche Biografie von Ignatieff dennoch getrost noch umfangreicher sein dürfte, verdankt sie der erzählerischen und sprachlichen Leistung ihres Autors, von dem man auch die Biografie einer Teutoburger Fichte lesen würde. Der Verlag hätte kein übertriebenes Engagement gezeigt, wenn er die sehr gute Übersetzung von Michael Müller noch einem Lektorat überantwortet hätte, um kleine Ungenauigkeiten, etwa in der Rückübersetzung deutscher Zitate, zu erkennen und auszugleichen: Dieses Buch wäre es wahrhaftig wert gewesen.

Michael Ignatieff: „Isaiah Berlin – Ein Leben“. Aus dem Englischen von Michael Müller. C. Bertelsmann Verlag, München 2000, 441 Seiten, 46,90 DM