kikkerballen
: Ein kurze Geschichte deutschen Unkens

Unken kennt auch Mitleid

Als mein Vater noch rauchte, wurde bei Spielen der deutschen Fußballnationalmannschaft spätestens nach fünf Minuten die erste HB angesteckt. Mein Vater ist kein Seemann, aber es waren die Züge eines Matrosen, die das Treiben auf dem Platz begleiteten. „Pfuuuh“, raus der Rauch, Kräfte gesammelt; nun wusste ich, es ist so weit: Ab jetzt wird geunkt!

„Aaaach!....Oh, Mann!.....Neeeiiin!“ – der spontane Ausdruck eines Leidenden, das Ergebnis purer Hilflosigkeit angesichts der Dauerkatastrophe auf dem Spielfeld, es war – und ist – das Vorspiel zum Dauer-Unken. „Oje, gleich fangen sie einen!“ – Unken, kein schönredendes Moderatorengeschwätz, stattdessen der authentische Ton des Wohnzimmers, der wahre Kommentar zum Spiel. Redundant, archaisch, seit vierundzwanzig Jahren unke ich mich jetzt schon, von meinem Vater geschult, durch die großen Fußballturniere dieser Welt.

Erste Grundbedingung des Unkens: die deutsche Mannschaft. Ich brauche sie. Zwischen Hoffnung und Verzweiflung ist die Kunst des Aushaltens deutschen Gestocheres angesiedelt; Unken ist der Ausdruck weiser Voraussicht kommenden Übels auf dem Platz. Den Körper verspannt, möglichst durch Tabak und Bier vergiftet, so unkt es sich am schönsten. Mittlerweile glaube ich, dass manch nicht herausgespieltes Tor, manch rettender Ausgleich in Wahrheit kollektiv herbeigeunkt wurde. Der Pessimismus der Unker gilt mir als Grundlage vergangener Siege. Und was haben wir geunkt!

„Oh, Mann, das wird doch nichts!“ – nölig, patzig, uffjereecht – kongenial werden die Angriffsbemühungen begleitet. Während der offizielle Kommentar sich sein Unken verkneift, erst bei der Analyse am Ende Unken in rationale Erklärungen verpackt, unke ich mittlerweile schon vor Anpfiff kräftig drauflos. Es wird schlimmer, so meine Erfahrung. Das Fernsehen kommt mir entgegen, fünf Stunden Countdown machen ordentlich was her.

Auch ganz wichtig, die zweite Grundbedingung des Unkens: die anderen Mannschaften. Ohne sie kein Unken. Der Gegner ist der Antipode des Unkens. Er lässt verschnaufen, er schafft Platz für Attacken. Da pausenloses Unken auf Dauer garantiert nicht gesund ist, empfiehlt es sich, möglichst viele Partien der anderen Mannschaften zu verfolgen. Selbst ein schnarchiges Deutschland-freies Null-Null in einer Nachmittagsbegegnung zwischen Soundso und Soundso lässt einen bloß blöken, nicht unken. Umso größer der Unk-Effekt, wenn man wieder mal Zeuge einer dieser Begegnungen war, die ein Versprechen an die Menschheit zu sein scheinen. Brutaler geht es nicht, als nach so einer verwirklichten Utopie auf Markus Babbel zu treffen. Nach Zidane-auf-Henry heißt es Unk-Faktor 100, wenn Babbel, Markus tricklos beim Flanken gescheitert ist, sich anschließend am Trikot zupft, mit der Miene eines verschreckten Rehs Richtung Schiedsrichter schaut und die Miene zu sagen scheint: Der hat mich angefasst!

Apropos Babbel: Unken kennt auch Mitleid. Nach besagter Szene wurde heftigst diskutiert, ob so etwas in Liverpool die sofortige Ausreise nach sich ziehen würde oder ob schon die von den Kollegen geforderten acht Pints am ersten Abend im Trainingslager Babbels Ausflug auf die Insel beenden werden. Der Unker fordert: Man muss Markus Babbel schützen. Lasst ihn nicht nach England.

Weiter geunkt: Entweder haben wir den modernen Fußball nicht verstanden, oder die wahre Deutung von Babbels Gesicht – fast so oft in Großaufnahme wie die Glatze des italienischen Schiedsrichter-Aliens Collina – liegt darin, dass in ihm die latente Angst vorm Aufdecken der Wahrheit eingeschrieben ist. Welche Wahrheit? – die große Wahrheit des Markus Babbel. Denn das Gesicht sagt: Ich kann nicht Fußball spielen. Und: Warum merkt das eigentlich niemand? Es sagt: Ja, es stimmt, es ist alles ein großes Missverständnis. In der D-Jugend fing es an. Ich wollte da doch gar nicht hin, meine Mutter hat mich gezwungen! Sie sehen, gerne verbeißt er sich, der Unker, dreht am Rad. Bevor er nicht mehr loslässt. Schnell noch die letzte, allerwichtigste Grundbedingung des Unkens: Passiv bleiben, bloß nicht selber Fußball spielen!

HENNING HARNISCH