: Traum vom Glück
Die meisten auswanderungswilligen Chinesen stammen aus der Provinz Fujian
von SVEN HANSEN
Dreimal hat sich der 27-jährige Liu schon aus China herausschmuggeln lassen – nach Taiwan, Japan und Hawaii. Doch jedes Mal wurde er geschnappt und in seine Heimatstadt Fuzhou in der südostchinesischen Küstenprovinz Fujian zurückgeschickt. Doch Liu will es wieder versuchen. „Viele meiner Freunde sind ausgewandert. Meine Familie denkt, ich sollte auch gehen“, sagt er.
Über 9.000 Chinesen sind 1999 von den Behörden beim Versuch der illegalen Ausreise geschnappt worden, berichtete im Februar die offizielle China Daily. Davon stammten 80 Prozent aus Fujian. Und über 800 „shetou“ (Schlangenköpfe), wie die bandenmäßig organisierten Schleuser in China genannt werden, seien verhaftet worden.
Auf jeden Geschnappten kommen mehrere, denen die illegale Einreise nach Nordamerika, Japan, Australien oder Westeuropa gelang. Die meisten Schätzungen sprechen davon, dass pro Jahr 100.000 Menschen China illegal verlassen. Laut Frank Lu Siqing vom Hongkonger Informationszentrum für Demokratie und Menschenrechte nennt ein interner Regierungsbericht für 1999 sogar eine halbe Million Ausreiseversuche. Allein am Pekinger Flughafen seien vergangenes Jahr 3.000 Personen beim versuchten Abflug mit falschen Papieren verhaftet worden. Erst vor drei Tagen meldete Lus Zentrum, dass ein Flughafenpolizist zu 18 Monaten Haft verurteilt wurde, der eine solche Ausreise ermöglichen wollte.
Zum Jahresbeginn machten an der nordamerikanischen Westküste mehrere spektakuläre Fälle des Schmuggels von Chinesen in Frachtcontainern Schlagzeilen. Die Geschnappten gaben sich als verfolgte Falun-Gong-Anhänger aus oder als Opfer der Ein-Kind-Politik. Sie beantragten Asyl und wurden freigelassen. Doch nach nordamerikanischen Angaben erscheinen 90 Prozent der Chinesen nicht zu ihrer Asylanhörung. Schon zum Jahresbeginn waren Einwanderer bei der Reise im Container ums Leben gekommen, und schon damals kamen die meisten Container mit illegalen Migranten aus Fujian. Nach Angaben der britischen Behörden sollen auch die 58 Toten von Dover von dort stammen.
In Fujian wie in den Nachbarprovinzen Zhejiang und Guangdong begann die Auswanderung vor über 150 Jahren. Goldfunde und der Eisenbahnbau in den USA und Australien versprachen damals armen Chinesen Wohlstand. Heute sind die Küstenprovinzen wohlhabend und ziehen Wanderarbeiter, die auf bis zu 150 Millionen geschätzt werden, aus dem armen Binnenland an.
Chinas Küstenprovinzen sind traditionell nach außen orientiert und haben eine lange Tradition des Schmuggels von Waren und Menschen. Erst im Januar erregte in Fujian ein großer Schmuggelskandal Aufmerksamkeit, dessen Hauptverdächtige bis in die höchste Staatsspitze reichten. Fujians Wohlstand kommt durch den Handel und Schmuggel vor allem mit dem gegenüberliegenden Taiwan, durch Investitionen taiwanischer Firmen – und durch die Überweisungen der Migranten.
Fujianesen bevölkern die Chinatowns der Welt, wo landsmannschaftliche Netzwerke die Neuankömmlinge aufnehmen. In Londons Chinatown stammen zehn Prozent der Bewohner aus Fujian. Meist verlassen nicht die ärmsten Chinesen ihr Land, sondern die dynamischsten und ehrgeizigsten, die mehr aus sich machen wollen. Meist sind es unverheiratete Männer zwischen 20 und 40 Jahren, die sich bis zu 60.000 Dollar für die Schleuser und die Fahrt leihen und das Geld später jahrelang zum Beispiel in Chinarestaurants abarbeiten. In dieser Zeit sind sie moderne Sklaven.
In Fujian wird wegen der männlichen Migration schon von „Orten der Witwen“ gesprochen. Australiens Migrationsminister Philip Ruddock reiste im Frühjahr persönlich nach Fujian, um auf die Risiken der Flucht aufmerksam zu machen und die Menschen zum Bleiben aufzufordern. Doch wer weg will ist geneigt, Warnungen nicht zu glauben. Die Versprechen der Schlangenköpfe klingen auch zu attraktiv. Sie setzten das Gerücht in die Welt, zur Olympiade in Sydney würden noch Arbeitskräfte gebraucht, die später im Land bleiben dürften. Oder es hieß, zum 100. Geburtstag der britischen Queen-Mum im August werde es eine Amnestie für illegale Einwanderer geben.
Seit Ende der Achtzigerjahre hat die Attraktivität des Auslands für die Chinesen zugenommen. Zunächst orientierten sich viele am damals noch britischen Hongkong. In der Kronkolonie wurden 1988 schon 20.000 illegale Einwanderer geschnappt, deren Zahl 1993 auf 37.000 stieg. Waren die USA schon immer das Traumziel, gewann mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion Westeuropa an Bedeutung. Es kann sogar auf dem Landweg erreicht werden. Osteuropäische Hauptstädte wie Warschau, Prag und Belgrad, wohin meist legal geflogen werden kann, sind Transitorte. Über Land geht die Reise dann illegal weiter. Nach Angaben serbischer Oppositioneller stieg seit dem Nato-Angriff auf die chinesische Botschaft in Belgrad vor 13 Monaten die Zahl der Chinesen in der jugoslawischen Haupstadt von mehreren tausend auf 40.000.
Auch die toten Chinesen von Dover sind wahrscheinlich über Osteuropa gereist. Ein Chinese, der seinen Vetter unter den Toten vermutet, berichtete am Dienstag, der 19-Jährige sei im Februar aus China geflohen und dann über Russland und Osteuropa bis nach Holland gelangt. Von dort habe er sich am Sonntag das letzte Mal gemeldet.
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